Düsseldorf. NRW hat erfahrene Kriminalisten reaktiviert, um ungeklärte Verbrechen mit moderner Technik neu aufzurollen - mit Erfolgsaussichten.

Allein der Geruch der alten Schreibmaschinen-Seiten. Der getackerten Protokolle und verblassten Fotos. Die Asservatenkisten mit Kleidungsresten und Zigarettenschachteln, die man nur noch aus alten Filmen kennt. All die wertvollen Folien, mit denen Kollegen vor Urzeiten einmal Leichen abgeklebt und unbewusst Hautpartikel gesichert haben.

„Man ist sofort wieder voll drin“, sagt Berthold Kunkel. Der 65-Jährige hat 45 Jahre im Polizeidienst zugebracht, die allermeisten davon befasst mit Tötungsdelikten. Kunkel gehörte als Dienststellenleiter in Gelsenkirchen zum Führungspersonal der Kripo und hat seiner Familie mit der rastlosen Verbrecherjagd einiges zugemutet, wie er sagt. Als er 2018 in den Ruhestand ging, wollte er manches wiedergutmachen.

Doch Ende Juli des vergangenen Jahres zeigte ihm seine Frau am Kaffeetisch eine Schlagzeile in der WAZ: „Die Rückkehr der Rentner-Cops.“ Innenminister Herbert Reul (CDU) suchte damals 28 erfahrene Kriminalisten in Nordrhein-Westfalen, die eine neue Einheit beim Landeskriminalamt zum Aufrollen ungelöster Fälle, sogenannter „Cold Cases“, unterstützen sollten. „Das wäre doch was für Dich“, meinte Kunkels Frau.

Bei Mord und Totschlag gibt es einen Aufklärungsquote von über 90 Prozent

Bei Mord- und Totschlag gibt es eine Aufklärungsquote von über 90 Prozent. Die wenigen ungelösten Fälle, die jeden Ermittler Zeit seines Berufslebens quälen und oft noch Jahre darüber hinaus, kommen auf Wiedervorlage. Wieder und wieder. Mord verjährt nicht. Doch im Tagesgeschäft eines Kriminalkommissariats für Tötungsdelikte bleibt oft nicht genug Zeit, um sich noch einmal auf Spurensuche zu begeben.

„In den Kellern der Ermittlungsbehörden gibt es noch einige ungeklärte Tötungsdelikte und Vermisstenfälle. Wir machen dort ein bisschen Licht“, sagt Reul. Um die aktiven Kommissare zu entlasten, stattet er motivierte Pensionäre mit 30-Stunden-Verträgen aus. Die Idee: „Alte Spürnasen treffen auf neueste Technik“, so der Innenminister. Als er einmal mit Eltern sprach, die seit Jahren auf ein Lebenszeichen ihres Kindes warten, habe er entschieden: Da muss man etwas tun, die Aufarbeitung solcher Fälle muss systematisiert werden.

Seit 1970 gibt es über 1000 ungeklärte schwere Verbrechen

Über Jahrzehnte ist ein ziemlicher Berg der Hoffnungslosigkeit aufgeschüttet worden. Seit 1970 gibt es in NRW 1143 ungelöste Tötungs- und Vermisstenfälle. Zu 804 davon finden sich noch Akten. 323 wurden bereits in einer Datenbank erfasst. 167 wurden eingehend analysiert. Und tatsächlich: In 115 haben sich neue Ermittlungsansätze ergeben.

Ohne Kriminalisten wie Berthold Kunkel, der dem 35-jährigen Oberkommissar Dustin Wisnewski im Polizeipräsidium Essen zuarbeitet, würden die „Cold Cases“ wohl nie mehr an Temperatur gewinnen. Kunkel hat seit November zwölf Fälle durchgeackert. In drei bis vier sehe er Chancen. Er lese jede Seite der Ermittlungsakte, mache sich Notizen, schreibe Bewertungen, studiere Vernehmungsprotokolle, suche nach neuen Ansätzen. Er bringt seinen großen Erfahrungsschatz ein und zugleich einen frischen Blick, denn es sind nie Verbrechen, die er schon in seiner aktiven Zeit bearbeitet hat.

Der 30 Jahre jüngere Kollege Wisnewski guckt sich wiederum ab, wie früher ermittelt wurde, wie Zeugenvernehmungen abliefen: „Ich kann aus den alten Akten lernen“, sagt er. Zusammen mit „Rentner-Cop“ Kunkel hofft er, neue Ermittlungen einleiten und den einen oder anderen Täter doch noch überführen zu können. Über konkrete Fälle dürfen sie nicht sprechen. Nur so viel: Manchmal fehlte der Polizei früher nur ein kleines Puzzleteil zum großen Bild - und das könnten sie nun nachreichen.

Es geht nicht so schnell wie bei Fernseh-Kommissaren

Hinterbliebenen die quälende Ungewissheit zu nehmen, sei ein großer Antrieb, sagt Kunkel. Als er neulich nach 28 Jahren eine Familie anrief und nach DNA vom Opfer für einen Abgleich fragte, erntete er Ungläubigkeit: „Was? Sie ermitteln immer noch?“

Die moderne Kriminaltechnik biete große Chancen, auch nach Jahrzehnten noch den Täter dingfest zu machen, sagt Ralf Menkhorst, der viele Jahre Mord und Totschlag bearbeitet hat und im April in Essen die Leitung des Kriminalkommissariats 11 übernehmen wird. Die Auswertung von DNA-Spuren habe erst Mitte der 90er Jahre Einzug gehalten, erzählt der 55-Jährige. Seit den 1970er Jahren seien noch mit Hilfe von Folien auf Opfern und Gegenständen Faserreste gesichert worden. Nun kann man sich auf die Suche nach winzigen Hautpartikeln in den alten Asservatenkisten begeben. Und aus Blutflecken lässt sich längst mehr herauslesen als nur die Blutgruppe. Doch das alles ist sehr aufwendig und „geht leider nicht so schnell wie bei den Kommissaren im Fernsehen, wo am nächsten Tag das Laborergebnis da ist“, sagt Menkhorst.

Noch konnte auch mit Hilfe der „Rentner-Cops“ trotz vielversprechender Hinweise kein Altfall bis zur gerichtsfesten Aufklärung getrieben werden. Doch manchmal, sagt Menkhorst, „hilft es auch zu wissen: Da ist nichts mehr zu holen“.