Statuenstürze haben eine hitzige Debatte entfacht. Joachim Zeller plädiert für eine kritische Einordnung – Zerstörung allein sei aber falsch.
Im Zuge der „Black Lives Matter“-Bewegung ist eine Debatte um Kolonialdenkmäler entbrannt. In Bristol wurde eine Statue des Sklavenhändlers Edward Colston ins Hafenbecken geschmissen, in Boston köpften Demonstranten ein Kolumbus-Denkmal. Volontär Dennis Freikamp hat mit dem Historiker Joachim Zeller über den richtigen Umgang mit solchen Statuen gesprochen. Der Experte erklärt, warum umstrittene Denkmäler nicht auf den Meeresboden, sondern in ein Museum gehören. Und warum die Umbenennung von Straßen oftmals einen kräftezehrenden Prozess nach sich zieht.
Viele Denkmäler, denen es jetzt weltweit an den Kragen geht, standen bereits seit Jahren – teils sogar seit Jahrzehnten – in der Kritik. Was ist neu an den Protesten?
Im Kern sind die jetzigen Forderungen nach Abbau oder Musealisierung solcher Denkmäler nicht neu. Aber sie sind anlässlich des gewaltvollen Todes von George Floyd wieder in den gesellschaftlichen und medialen Fokus gerückt. Der Schriftsteller Robert Musil hat mal gesagt: „Es gibt nichts auf der Welt, das so unsichtbar wäre wie Denkmäler.“ Oft nehmen wir sie im Stadtbild gar nicht wahr. Aber dann kommt es zu einem solchen Ereignis und wir realisieren, dass sich in den Statuen ein Geschichtsbild manifestiert, das in unserer postkolonialen Gegenwart nicht mehr vertretbar ist.
Warum entlädt sich der Zorn der Demonstranten so stark an Statuen und Denkmälern von ehemaligen Kolonialisten?
Dazu muss man wissen: Der Rassismus ist eine Folge der Kolonialherrschaft. Um die Unterwerfung und den jahrhundertelangen Versklavungshandel zu rechtfertigen, haben die europäischen Kolonialherren „den Anderen“ erfunden, der primitiv, nicht so kultiviert und ein Mensch zweiter Klasse ist. Und weil wir diesen Rassismus bis heute in keinem Land ernsthaft aufgearbeitet haben, kommt es immer wieder zu solch schrecklichen Ereignissen wie in den USA. Statuen wie die des Sklavenhändlers Colston sind Sinnbilder dieser mangelhaften Aufarbeitung, an denen sich die Leute abarbeiten.
Glauben Sie, dass die Demonstrationen in den jeweiligen Ländern zu einem gesellschaftlichen Umdenken und einem sensibleren Umgang mit der eigenen Kolonialgeschichte führen werden?
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Es hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten anlässlich solcher Ereignisse immer wieder Debatten gegeben, die kurz hochschwappten und dann wieder im Sande verliefen. Trotzdem bin ich vorsichtig optimistisch, dass eine weltweite Bürgerrechtsbewegung entsteht, die an diesem Thema dranbleibt. Wir erleben ja gerade verschiedene Krisen und sind hochsensibilisiert: erst die Klimakrise, dann die Wirtschafskrise infolge der Coronakrise. Vielleicht hilft diese allgemeine Sensibilisierung, auch Fortschritte in der Auseinandersetzung mit umstrittenen Monumenten zu machen.
Auch das Deutsche Kaiserreich war mehr als drei Jahrzehnte lang eine Kolonialmacht, musste seine Kolonien in Afrika, Ostasien und Ozeanien aber am Ende des Ersten Weltkrieges abtreten. Warum ist die deutsche Kolonialgeschichte in der breiten Öffentlichkeit kaum präsent?
Nach dem Zweiten Weltkrieg war der geschichtskulturelle Gegenstand in erster Linie der Holocaust. Die NS-Verbrechen haben die Erinnerungskultur – ich füge hinzu: nicht zu Unrecht – dominiert. Nach 1990 gab es die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur und der deutschen Wiedervereinigung. Was die koloniale Vergangenheit angeht, setzte die Aufarbeitung ab den 60er Jahren nur ganz zögerlich ein. Trotzdem konnten auch Fortschritte erzielt werden: Es gibt zum Beispiel fast keine deutsche Großstadt mehr, in der noch keine postkoloniale Initiative ins Leben gerufen wurde.
Inwieweit begegnet Ihnen in Ihrem Arbeitsalltag auch das Argument: „Wir müssen uns schon mit der NS-Zeit und den Holocaust auseinandersetzen, dann lasst uns wenigstens mit der Kolonialgeschichte in Ruhe.“
Das höre ich öfter. Bis hin zur AfD, die – wie sie es selbst nennt – gegen den „Schuldkult der Linken“ aufbegehrt. Als ich das Buch „Völkermord in Deutsch-Südwestafrika“ vor einigen Jahren mit herausgegeben habe, wurde mir vorgeworfen, ich würde das Holocaust-Trauma auf Namibia projizieren wollen. Es gibt nach wie vor Menschen, die einfach nicht bereit dazu sind, sich kritisch mit der Frage der Schuld zu befassen. Einigen passt diese Debatte auch einfach nicht ins eigene Geschichtsbild.
In Deutschland stehen nach wie vor Kolonialdenkmäler. Einige wurden umgewidmet oder erhielten im Laufe der Jahre neue Gedenktafeln, die das Leid der Opfer in den Mittelpunkt rücken. Das Kolonialkriegerdenkmal am Frankenplatz in Düsseldorf erinnert zum Beispiel seit 2004 an den Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Ein richtiger Schritt oder hätte man die Statue lieber abreißen sollen?
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Da muss man von Fall zu Fall entscheiden. Ich bin aber dezidiert dagegen, Denkmäler einfach nur zu zerstören, ins Wasser zu schmeißen und dort liegen zu lassen. Die zerbeulte Colston-Statue sollte – ohne die Spuren des Denkmalsturzes zu restaurieren – in ein Museum, damit Besucher sich sowohl mit der historischen Figur als auch mit der Geschichte der Statue auseinandersetzen können. Es gibt auch den Ansatz, Statuen in Antikolonialdenkmäler umzuwidmen oder in Projekte einzubinden. Wichtig ist, sie zu einem Gegenstand des kritischen Lernens zu machen – auch wenn uns einige der dargestellten Persönlichkeiten noch so reaktionär und rückwärtsgewandt erscheinen.
In London wurde eine Churchill-Statue beschmiert, in Hamburg ein Denkmal von Reichskanzler Otto von Bismarck mit Farbbeuteln beworfen. Auch in Duisburg, Düsseldorf und Essen stehen Bismarck-Denkmäler. Gibt es denn überhaupt noch den klassischen „Helden“, der nach heutigem Maßstab völlig unbelastet ist? Oder bedarf es bei allen historischen Statuen und Denkmälern einer kritischen Einordnung?
Wir leben in einem postheroischen Zeitalter. Die veraltete Vorstellung „große Männer machen Geschichte“ ist vorbei. Und wenn Sie jetzt von Churchill oder Bismarck reden: Die haben alle ihre belasteten Seiten. Die wenigsten wissen, dass Churchill an Kolonialkriegen teilgenommen hat – und das nicht nur als Reporter, sondern aktiv in den Einheiten der Briten, die mit dem damals neu entwickelten Maxim-Maschinengewehr zehntausende Menschen niedergemäht haben. Die Churchill-Statue in London memoriert ihn aber ausschließlich als Held, der die Nazis niedergerungen hat. Diese einseitige Darstellung greift zu kurz.
Auch Straßennamen stehen immer wieder in der Kritik. In Bottrop und Mülheim tragen Straßen den Nachnamen des Kolonialisten Adolf Lüderitz. In Duisburg gibt es eine Lüderitzallee. Im Essener Stadtteil Gerschede erinnerte bis 2003 die Karl-Peters-Straße an den Begründer der Kolonie Deutsch-Ostafrika. Warum tun sich einige Städte offenbar so schwer mit Namensänderungen?
In einer Demokratie sollte die Öffentlichkeit, sollten die Stadtparlamente mitdiskutieren. Dass das seine Zeit braucht, ist völlig klar. Andererseits hängt das aber auch mit einer gewissen Trägheit zusammen, weil betroffene Geschäfts- und Privatleute ankommen und sagen: „Jetzt muss ich mir auch noch neue Visitenkarten drucken, das kostet mich wieder Geld.“ Außerdem gibt es konservative oder auch rechtsradikale Kreise, die sich zum Beispiel in Berlin offen gegen eine Umbenennung der Mohrenstraße aussprechen, obwohl der Begriff für Schwarze als zutiefst rassistisch und demütigend empfunden wird. Es ist also auch eine Frage des Geschichtsbewusstseins und des Willens der lokalen Bevölkerung.
Ein sensiblerer Umgang mit Kolonialdenkmälern und Straßennamen ist das eine. Aber wie kann in der Gesellschaft die Erinnerung an die Verbrechen der deutschen Kolonialherren geschärft werden? Was würden Sie sich persönlich wünschen?
Mein ganz persönlicher Wunsch ist, dass das Humboldt Forum in Berlin möglichst bald öffnen kann und eine Gedenkstätte zum deutschen Kolonialismus entsteht, die sich in aller Offenheit und radikal ehrlich mit der Geschichte der Kolonialisten und der ausgestellten Objekte befasst. Denn wer ansatzweise unsere global vernetzte Welt und die aktuelle Rassismusdebatte verstehen will, der muss sich – selbst wenn es womöglich für den ein oder anderen eine Zumutung sein mag – auch mit der kolonialen Globalisierung auseinandersetzen. Und das wäre nicht nur ein Wunsch, sondern eine Forderung.
>>> Zur Person
Joachim Zeller wurde am 2. April 1958 in Namibia geboren, der ehemaligen Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“. 1999 promovierte Zeller an der TU-Berlin zur (post-)kolonialen Erinnerungskultur Deutschlands. Der Historiker befasst sich in seinen Forschungsarbeiten mit der deutschen Kolonialgeschichte, der postkolonialen Gedenkkultur sowie dem Völkermord an den Herero und Nama. Er ist Mitherausgeber des 2018 erschienenen Sammelbandes „Deutschland postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit“.