Düsseldorf. Wie sieht die Klimabilanz der schwarz-gelben Landesregierung aus? Ein Blick auf die Themen zeigt die Schwachstellen der vergangenen Jahre.
In Kuckum steht seit Jahren das Leben still. Es ist ein idyllischer Ort: alte Backsteinhöfe und aufgeräumte Vorgärten, hier eine Pferdefigur, dort ein Rosenstrauch. Dazwischen aber immer wieder heruntergelassene Rollläden. Knapp zwei Drittel der Menschen sind schon weg. Kuckum ist eines der letzten fünf Dörfer, die dem Braunkohletagebau Garzweiler weichen sollen. Seit der Bundestagswahl können die verbliebenen Bewohner hoffen, dass ihr Dorf erhalten bleibt. Ihre jahrelange Hängepartie aber steht symbolisch für die Klimapolitik der Landesregierung in den vergangenen Jahren.
David Dresen sitzt in Leinenhose und Ringelshirt am großen Holztisch im Wintergarten und frühstückt. Der 31-Jährige schaut auf Obstbäume und grüne Wiesen, seine Schwester dreht Runden auf Pony Luke. Dresens Familie wohnt hier mindestens seit dem 19. Jahrhundert. Auch er kam nach dem Studium zurück, als Aktivist für sein Dorf und fürs Klima. Am gleichen Tisch saß 2018 der damalige Ministerpräsident Armin Laschet und hörte Dresens Oma zu, die ihm erklärte: lieber vorher sterben als umsiedeln. „Da hat er sich sehr betroffen gezeigt“, sagt Dresen. Taten folgten keine. Als 2020 das Kohleausstiegsgesetz kam, enthielt es eine Bestandsgarantie für den Tagebau Garzweiler in seinen ursprünglich beantragten Grenzen. „Da hat Laschet sich zusammen mit RWE stark für eingesetzt“, sagt Dresen. „Das hieß für uns: Jetzt haben wir verloren.“
Hoffnung für die Dörfer
Später kam heraus, dass das Bundeswirtschaftsministerium ein selbst in Auftrag gegebenes Gutachten zurückgehalten hatte. Nach dessen Szenario hätten die Dörfer bleiben können. Andere Studien ergaben ebenfalls, dass ihre Umsiedlung energiepolitisch nicht notwendig sei. Und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung berechnete im vorigen Jahr, wie viel Kohle in Garzweiler noch abgebaut werden dürfte, um die 1,5-Grad-Grenze aus dem Klimaabkommen von Paris nicht zu reißen: deutlich weniger als geplant – und nicht so viel, dass die Dörfer verschwinden müssten.
Die Landesregierung aber legte sich in einer Leitentscheidung zur Braunkohle im März vorigen Jahres nicht fest: Nun sollte 2026 geschaut werden, ob die Dörfer noch abgebaggert werden müssen. Für Dresen war dieses schwammige „Weder – noch“ der „Laschet-Style“. Der frühere Ministerpräsident schien es allen recht machen zu wollen. Erst sein Nachfolger Hendrik Wüst sprach dann vom Kohleausstieg 2030 – als klar war, dass dies die Linie der neuen Bundesregierung sein würde. 2030 hieße: Die Dörfer bleiben. Auch wenn sich seit der russischen Invasion der Ukraine niemand darauf festnageln lassen will, besteht für Kuckum Hoffnung.
Verärgerte Waldbesitzer
Für die Landesregierung ändert das wenig an einer insgesamt schlechten Bilanz in Sachen Klima und erneuerbare Energien. Laschet betonte im Bundestagswahlkampf zwar gern die angebliche Vorreiterrolle seines Landes. Einem genauen Blick hielt die aber nicht Stand: Bei vielen Kennzahlen, etwa der Photovoltaikleistung pro Kopf, dümpelte NRW bestenfalls im Mittelfeld herum. Beim Anteil der Erneuerbaren an der Stromerzeugung stand es mit 17,6 Prozent besonders schlecht da. Den allermeisten Strom erzeugt NRW nach wie vor aus Kohle. Zwar war das Land 2020 beim Windräderzubau Spitzenreiter, allerdings auf bundesweit niedrigem Niveau und ohne viel Zutun der Regierung. Die bremste sich auf dem langen Weg zu ihren Ausbauzielen gleichzeitig selbst: Im vorigen Sommer beschloss sie in einem umstrittenen Schritt, dass Windräder 1000 Meter Abstand zu Wohnhäusern haben müssen. Zuvor hatte sie es bereits erschwert, Anlagen im Wald aufzustellen.
Damit hatte die Regierung 2019 viele Waldbesitzer verärgert, oft auch solche mit CDU-Parteibuch. Der Landwirt Heinrich-Wilhelm Tölle aus dem Kreis Lippe etwa würde gern mit anderen Waldbauern und einem Energieunternehmen 15 Windräder im Arnsberger Wald aufstellen. Oder eher dort, wo offiziell noch Wald ist, aber keine Bäume mehr stehen, weil erst 2007 der Orkan Kyrill kam und dann die Dürre und der Borkenkäfer, gegen den trockene Bäume wehrlos sind. Mit den Regelungen der Vorgängerregierung wäre der Bau möglich gewesen. Unter Schwarz-Gelb stand bisher in den Sternen, ob das Projekt die 2018 beantragte Genehmigung erhält. Für Tölle hieß das: „Gerade im Windkraftbereich fühle ich mich in dieser Partei nicht mehr zu Hause.“
Ähnlich im Kreis Siegen-Wittgenstein. Bad Laasphe im August 2021: Der Weg zu den Windrädern der Wittgenstein New Energy (WNE) führt durch sattgrüne Wälder. Dazwischen verschiedene Stadien der Verwüstung. Fichten, die erste braune Flecken haben, schon nicht mehr zu retten. Dann tote Fichten, oft hunderte Meter am Stück. Braune Mondlandschaften voller Baumstümpfe. Die gleichen Landschaften eine Weile später, überwachsen mit Ginster und Brombeere.
Wie viel Abstand muss sein?
Etwa 80 Prozent des Fichtenbestandes, schätzt Cliff Reppel, hat der Borkenkäfer im Griff. Reppel ist Architekt bei WNE. Nach Kyrill hatte das Unternehmen den ersten Windpark im Wald in NRW gebaut. Im Sommer 2021, als gerade der 1000-Meter-Abstand in Kraft getreten ist, betreibt es elf Anlagen, fünf weitere sind im Bau. 16 Räder, das macht rund 54 Megawatt Nennleistung. Ohne die neue Abstandsregel hätten noch 80 Megawatt hinzukommen sollen – die liegen nun auf Eis. Reppel ärgert das: „Das wäre für die Energiewende super und dringend notwendig gewesen“, sagt er. Mit weniger als 700 Meter Abstand plane man ohnehin nie. Und schon vorher sei es aufwendig genug gewesen, einen Windpark zu errichten: Flächen finden, dutzende Ringordner Antragsunterlagen ausfüllen, Genehmigungsverfahren abwarten, Gutachten einholen, Klagen abwehren. All das dauert Jahre.
„Es ist fünf nach zwölf“
Aber es lohnt sich. Eine der Anlagen versorgt Reppels Heimatort Banfe mit Strom, das macht ihn stolz. In Jeans und Fleecejacke steht der 36-Jährige im Inneren eines Windrads und kontrolliert eine Anzeige: aktuelle Leistung 824 Kilowatt, Windgeschwindigkeit 6,7 Meter pro Sekunde, Neigungswinkel der Rotorblätter -1,7 Grad. Kurz darauf sind es schon 1600 Kilowatt. Das Rad richtet sich selbstständig nach dem Wind aus.
Über eine metallene Außentreppe steigt Reppel wieder hinab. Auf der Schotterfläche ringsum wachsen schon wieder erste winzige Fichten. Ein Stück weiter sucht ein Bussard eine der vielen Kahlflächen nach Mäusen ab. „Es ist nicht fünf vor zwölf“, sagt Reppel. „Es ist fünf nach zwölf. Wenn nicht mit Windkraft, wie wollen wir es denn dann schaffen?“
Auf den sogenannten Kalamitätsflächen haben selbst viele Naturschützer nichts gegen Windräder. „Das sind Holzäcker in der freien Landschaft, die mit Waldökosystemen nichts zu tun haben“, sagt Dirk Jansen, Geschäftsleiter Umwelt- und Naturschutzpolitik des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) NRW. „Es ist vollkommen unverständlich, warum Laschet da so einen Amoklauf gegen die Windenergie angefangen hat.“ Jansen spricht sogar von einer „Win-win-win-Situation“: Anlagen brächten auf solchen Flächen gute Erträge, die Betroffenen hätten 20 Jahre lang Einkünfte – und der Wald könnte in Ruhe wieder wachsen.
Späte Kehrtwende
Dieser Argumentation scheint nun kurz vor Ende ihrer Amtszeit auch die Landesregierung zu folgen. Im Dezember 2021 machte das Wirtschaftsministerium in Sachen Windkraft im Wald eine rhetorische Kehrtwende: Nun soll es leichter werden, Anlagen auf Kalamitätsflächen zu bauen. Auch in einer im April vorgestellten Studie des Landesamtes für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz sind sie einberechnet. Zumindest in einer zweiten Version. Eine erste, die pessimistisch war, was das Erreichen der schwarz-gelben Ausbauziele anging, hatte das Ministerium offenbar kassiert.
Konkret passiert ist nach den Ankündigungen aber noch nichts – Ankündigungen, die nach vier Jahren kamen und auf Druck von außen hin. Etwa auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das den Bund zu mehr Klimaschutz verpflichtete, und auf die neuen Klimaziele aus Berlin hin. „Man hat sich gern ein Stück weit treiben lassen“, sagt Dirk Jansen, „und das gemacht, was sowieso unweigerlich kommt.“
Die Industrie braucht grünen Strom
Zwar kann man der Landesregierung zugutehalten, dass NRW historisch eng mit der Kohle verbunden ist. Dass es viel Industrie hat und gleichzeitig mit seiner dichten Besiedlung nicht die besten Voraussetzungen für Windkraft. „Man kann es aber auch umdrehen und sagen, NRW sollte ein besonderes Interesse haben, den Ausbau der Erneuerbaren voranzutreiben“, sagt Thilo Schaefer, Leiter des Kompetenzfelds Umwelt, Energie, Infrastruktur beim Institut der deutschen Wirtschaft Köln. Dass sich ein solches Land also besonders anstrengen sollte, um die unvermeidbare Wende weg von der Kohle zu schaffen. Gerade für seine Industrie, die dafür viel grünen Strom braucht.
NRW ist kein Vorreiter
Das hat die Landesregierung nicht getan – auch wenn sie durchaus einiges vorangebracht hat. Die Digitalisierung etwa. Oder die Zusammenarbeit von Politik, Forschung und Industrie in der Initiative „IN4climate.NRW“. Oder die Förderung der Solarenergie: Hier steht Schwarz-Gelb insgesamt zumindest nicht schlechter da als die Vorgängerregierung. Allerdings sorgt Solarenergie auch für weniger Kontroversen und Widerstand als Windenergie. Trotzdem ist NRW von einer Vorreiterrolle weit entfernt. Vor einer Solarpflicht für Neubauten etwa schreckte die Regierung zurück.
Wäre sie die Energiewende in den vergangenen fünf Jahren konsequenter angegangen: Es wären auf viel mehr Dächern Solarzellen entstanden. Es hätte im Arnsberger und im Wittgensteiner Wald mit der Windkraft vorangehen können. Und in Kuckum mit dem Leben.
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