Denver. Mindestens zwölf Menschen starben beim Blutbad im Kino von Aurora. Darunter ist auch die Sportmoderatorin Jessica Ghawi, die gerade erst einen Amoklauf in Toronto überlebt hatte. Die Geschichten der Opfer zerreißen dem ganzen Land das Herz. Die des Täters James Holmes gibt nur Rätsel auf.
Als Jessica Ghawi vor sieben Wochen dem Tod von der Schippe sprang, fand sie Worte, die viele noch heute zu Tränen rühren. „Ich wurde daran erinnert, dass wir nicht wissen, wann oder wo wir unseren letzten Atemzug tun werden“, schrieb die junge Fernseh-Sportmoderatorin, nachdem sie durch puren Zufall dem Amoklauf im Easton-Einkaufszentrum von Toronto mit sieben Toten entgangen war.
Am Freitagmorgen kam der 24-Jährigen kein Schutzengel zur Hilfe, als in einem Vorort-Kino von Denver/Colorado der gleichaltrige Student James Holmes mitten in der Premierenvorstellung des neuen „Batman“-Films zu einem der folgenschwersten Massenmorde in der amerikanischen Geschichte ansetzte.
Der Attentäter tötete zwölf Menschen, rund 60 wurden verletzt
Der Amoklauf von Aurora – zwölf Tote, rund 60 Verletzte, mindestens zehn davon noch immer in kritischem Zustand – ist voll von solchen Geschichten, die Amerika gerade das Herz zerreißen. Da ist Veronica Moser. Die Sechsjährige ist da jüngste Opfer. Ihre Mutter Ashley weiß von nichts, ringt selbst mit dem Tod.
Da ist Matthew McQuinn, ein 27-Jähriger, der sich vor seine Freundin Samantha warf, als in Kinosaal neun die brutale Fiktion aus „The Dark Knight Rises“ von der Leinwand in die Sitzreihen des wahren Lebens übersprang. Da ist Jonathan Blunk, auch er war seiner Partnerin Jansen bis zum letzten Atemzug lebendiges Schutzschild. Da ist schließlich Alex Sullivan, der mit Freunden seinen 27. Geburtstag mit einem nächtlichen Kino-Besuch einläuten wollte.
James Holmes ließ ihnen allen keine Chance. Was ihn antrieb, niemand weiß es bislang. Holmes sitze in Einzelhaft und schweige, sagt die Polizei. Heute (Montag) wird er dem Haftrichter vorgeführt. Ganz Amerika wird per Fernsehen zusehen. Mitte der Woche erwartet ihn die offizielle Anklage: zigfacher Mord. Wie konnte das nur geschehen? Präsident Barack Obama besuchte am Sonntag die Angehörigen der Opfer in Aurora. Eine Antwort hatte er nicht.
Gute Leute, die Holmes. Aber der Junge?
James Holmes wuchs in behüteten Verhältnissen in einer besseren Gegend von San Diego auf. Vater Mathematiker und Software-Manager, Mutter Krankenschwester. „Gute Leute“, sagen die Nachbarn. Nur der Junge immer „so still“, „extrem ruhig“, „sehr schüchtern“ und „in sich gekehrt“. Nach der Schule studiert Holmes in Riverside/Kalifornien Neurowissenschaften. Professoren von damals sagen, er gehörte „zu den Besten der Besten“. Der Junge erlangt Stipendien und Auszeichnungen. 2011 der Wechsel vom Strand in die Berge. In Denver/Colorado will er seinen Doktor machen.
Doch dann muss etwas passiert sein. Nur was? Die Noten verschlechtern sich extrem. Holmes bereitet schon bald seinen Ausstieg aus der akademischen Welt vor. Hat die Uni versucht, ihn auf Kurs zu bringen? Nachbarn erinnern sich, dass im Frühjahr dieses Jahres die Fenster seines Appartements von innen mit Zeitungen zugeklebt waren. In dieser Zeit, glaubt das FBI, könnte Holmes seinen diabolischen Plan gefasst haben.
Nach und nach, um nicht aufzufallen, kauft er im einschlägigen Fachhandel die Waffen. Und die Ausrüstung von Helm bis Gasmaske. Plus 6000 Schuss Munition. Ein AR-15-Sturmgewehr, ein Remington-Gewehr, zwei Glock-Pistolen. Alles legal. Holmes ist nicht vorbestraft. 15.000 Dollar steckt er in sein „akribisch vorbereitetes Unternehmen“, berichtet der Fernsehkanal CBS. Was in ihm vorgeht in dieser Zeit, wann der grausame Entschluss fiel – alles liegt im Dunkeln.
Ein hochbegabter Einzelgänger
Auch von Freunden und Netzwerken gibt es noch keine Spur. Der hochbegabte Einzelgänger, so scheint es, war bis zuletzt eine unöffentliche Person. Fuß- und Fingerabdrücke auf Facebook oder Twitter gibt es nicht. Allein dies hier: Am 5. Juli, so sagen die Ermittler, begab sich James Holmes im Internet auf die Suche nach Sex.
„Besuchst Du mich im Gefängnis?“, heißt es in seinem Inserat. Das und die Tatsache, dass der ehemalige Fußball-Fan von Kopf bis Fuß wie ein Robocop gepanzert war und sich nach der Gewaltorgie ohne Gegenwehr festnehmen ließ, lasse darauf schließen, dass er „auf jeden Fall weiterleben wollte“, sagen Fahnder.
Am Ende rettete er vielleicht Leben
Sein Vermächtnis: eine mit Stolper-Drähten und granatenähnlichen Zündsätzen ausstaffierte Wohnung. Fast 48 Stunden brauchte die Polizei, um die „Todeszone“ (Polizeichef Dan Oats) mit Wasserkanonen und einem ferngelenkten Roboter zu räumen. Hätte Holmes bei seiner Festnahme den Mund gehalten – beim Betreten des Appartements wären unweigerlich weitere Menschen gestorben, sagen Spezialisten. Überkam ihn so etwas wie späte Reue? James Holmes beschäftigte sich zuletzt an der Uni wissenschaftlich mit den genetischen Grundlagen von Geisteskrankheiten. Vielleicht ist er selbst schizophren.