Mazar-I-Scharif. Afghanistan wählt sich in eine ungewisse Zukunft. Weite Teile des Landes drohen trotz gewaltiger militärischer Präsenz des Westens immer tiefer in die Vergeblichkeitsfalle aus Taliban-Schrecken, Korruption und Drogen zu geraten. Dirk Hautkapp berichtet aus Mazar-I-Sharif.
Camp Marmal bei Mazar-I-Sharif. Eine kleinstadtähnliche Befestigungsanlage mitten in der Steppe. Mit eigener Landebahn, Straßen und Kreuzungen, mit Feldpostamt, Supermarkt, Friseur, Kirche und Badminton-Halle. Gut 2200 Bundeswehrsoldaten tun hier Dienst, leben in sandfarbenen Containern, die meisten vier, einige sechs Monate am Stück. Für täglich 110 Euro Gefährdungszulage neben dem normalen Sold. 80 Prozent sehen während ihres Aufenthalts keinen Meter Afghanistan außerhalb der Lagermauern.
Nach der sturzflugähnlichen Landung mit der betagten Transall, die uns am frühen Mittwochmorgen im usbekischen Termez abgeholt und in 20 Minuten hergebracht hat, warten wir mit Presse-Offizier Michael Weckbach aufs Gepäck. Knochentrockene 44 Grad sollen es am Mittag werden. Im Schatten. Für Samstag ist Sandsturm angekündigt. Durchschnittliche Klima-Kapriolen in dieser Jahreszeit. Die imposanten Marmal-Berge im Hintergrund, die sonst so beeindruckend rot in der Sonne schimmern, verschwinden im Dunst von Hitze und Staub.
Auf der Schritttempo-Fahrt zum abgezäunten Sicherheitsbereich des „Regionalkommandos Nord“ (RC North) der „Internationalen Schutztruppe für Afghanistan“ (Isaf) fällt auf, dass im Vergleich zum vergangenen Sommer noch mehr Afghanis auf einer der größten Militärbasen Zentralasiens arbeiten. Zu Dutzenden heben sie mit der Schaufel Gräben aus, die in der Regenzeit die Wassermassen bewältigen sollen. Andere planieren, dicht eingehüllt in Tücher gegen den allgegenwärtigen Staub, den mit feinem Geröll bestückten Boden. Seit der Lagerboden durchweg steinig ist, gibt es kaum mehr Fälle von Leishmaniose; ein besonders eklige Variante folgenschwerer Mückenstiche. 1200 Einheimische, allesamt vorher streng durchleuchtet, finden in Camp Marmal inzwischen Brot und Lohn. 300 Dollar im Monat verdient ein Hilfsarbeiter im Monat. Ein Polizist zum Vergleich muss sich mit 120 Dollar und weniger begnügen. Wenn die Bundeswehr, wann, weiß noch keiner, ihre „Exit-Strategie“ gefunden hat und Afghanistan verlässt, dann geht mit ihr auch der größte Arbeitgeber weit und breit.
Viel hat sich getan inzwischen in diesem kleinen durch und durch deutschen Mikrokosmos in Nordafghanistan. Das neue „Betreuungszentrum“, das soziale Herz des Lagers, ist fertig. Rund um einen Innenhof hat das Verteidigungsministerium den Soldaten eine „Oase“ (Restaurant mit Zapfanlage), das „K 2“, eine Kneipe mit Dosenbier und Kickertisch, die „Lounge“ (Bar, Billard, Fernsehen) und den „Planet Mazar“ spendiert; einen Multifunktionssaal, in dem man sich erst daran gewöhnen muss, wenn abends hunderte Männer im Tarnfleck zu hammerharten Techno-Rhythmen tanzen. Gewiss, Soldatinnen gibt es auch. Aber sie stellen maximal 15 % der Belegschaft. Nicht vergessen werden darf ein modernes Sportzentrum mit Laufbändern, Steppern, Kraftmaschinen und Hantelbänken, das von früh spät fleißig besucht wird; wohl auch, weil es eine äußerst tüchtige Klimaanlage hat. Bodybuildung am Hindukusch; der Bund macht’s möglich.
Militärseelsorger K., zuständig für die katholische Fraktion, hat es da nebenan eher auf den Geist abgesehen. Gemeinsam mit drei Kolleginnen und Kollegen widmet er sich an widrigem Ort dem Seelenheil jener, die entweder von Lagerkoller oder heimischen Eheproblemen oder von den psychischen Folgen einer Sprengfalle verfolgt werden, die „Insurgenten“ (Aufständische) irgendwo da draußen vergraben haben, damit eine deutsche Patrouille drüber fährt und in die Luft fliegt. Was K. in den vielen Einzelgesprächen und den regelmäßigen Gottesdiensten in der kleinen Kapelle gegenüber feststellt, ist eine große Ernsthaftigkeit. „Jeder Außeneinsatz wird akribisch vorbereitet. Jeder Soldat weiß, dass es jeden Moment vorbei sein kann.“ Dabei gilt Mazar-I-Sharif im Vergleich zum 200 Kilometer entfernten „Hotspot“ Kundus, wo sich die Bundeswehr zuletzt regelrecht im Krieg mit den Taliban befand und kaum mehr ein Tag ohne Raketeneinschlag im Bundeswehrlager vergeht, als ausgesprochen ruhig.
Eine Ruhe, die allerdings schnell verfliegt, wenn man die Militärseelsorge verlässt und hinübergeht zum Ehrenhain. Nur hier wächst, wenn schon kaum Hoffnung, so doch Grün. Ein gemauerter Ort des Gedenkens an alle jene Soldaten, nicht nur deutsche, die im Einzugsbereich des Nordkommandos ihr Leben ließen. Allein 35 deutsche Soldaten sind seit Beginn der Afghanistan-Mission 2002 gestorben. Die frischeste Gedenktafel trägt das Datums eines Tages Ende Juni 2009. Die Ungereimtheit auf der Marmor-Tafel („Lest We Forget“, es müsste wohl „last“ heißen“) ist bisher noch kaum jemandem aufgefallen. Wer an dieser Stelle einmal gestanden hat, als Soldaten abends spät eines toten Kameraden gedachten und einige dabei leise weinten, hat den umstrittenen Satz des ehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck mit der deutschen Freiheit, die auch am Hindukusch verteidigt werde, anders im Ohr. Nicht so dahergesagt. Wie so manches im Wahlkampf...
WAZ-Redakteur Dirk Hautkapp war in der Provinzhauptstadt Mazar-I-Sharif unterwegs. Notizen und Eindrücke aus einem Land am Abgrund.
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