Washington. Vor rund 800.000 Menschen ist US-Präsident Barack Obama in Washington noch einmal vereidigt worden. In seiner wortgewaltigen Rede appellierte Obama eindringlich an den Gemeinsinn des Volkes und rief dazu auf, Trennendes nicht zu Unüberwindbarem zu machen.
Beim ersten Mal machte ihr der Schnee einen Strich durch die Rechnung. Ein zweites Mal wollte Martha Davis „den Tag der Freude“ nicht verpassen. Zehn Stunden hat sie im Auto gesessen. Alle Wege führten diesmal von Rome im Süd-Bundesstaat Georgia nach Washington.
Am Montagmorgen stand die 72-jährige, die als junges Mädchen die Rassentrennung am eigenen Leib erfahren hat, im bodenlangen Ledermantel, roter Pudelmütze und riesigem Obama-T-Shirt unterhalb des Kapitols, pustete sich die klammen Finger warm und machte sich gemeinsam mit 800.000 anderen bereit „für den großen Moment aller Patrioten“: die zweite Amtseinführung eines afroamerikanischen Präsidenten. Barack Hussein Obama.
Auf der Mall, dem 1,5 Kilometer langen Feld zwischen Obelisk und Kapitol, stehen sich die ersten Staatsakts-Touristen schon um 6 Uhr die Beine in den Bauch; eingemümmelt in Textilien, die man von der Skipiste kennt. Jim, ein rundlicher Lehrer aus Boise/Idaho, ist „happy“, dass es nicht so voll ist wie 2009. Bei Obama I folgten zwei Millionen dem Ruf der Geschichte. Die Hälfte ist es diesmal. Aufgerundet. Kein Ausdruck von Obama-Überdruss, sagt der Fachmann für Amtseinführungsfragen, Prof. Michael Cornfield, augenzwinkernd. „Der zweite Aufguss ist immer schlapper, wir kennen den Kerl ja dann schon.“
Jubelwellen schieben sich aus der Menge Präsident Obama entgegen
Ausgestattet mit Flaggen, Fähnchen und Obama-Devotionalien vom Halstuch bis zu den Manschettenknöpfen, die an den Zugangstoren die Metall-Detektoren „verrückt gemacht haben“, verfolgt Jim mit seiner Freundin Sue den Höhepunkt über eine der vielen Großleinwände. „I do solemnly swear...ich gelobe feierlich“, beginnt Obama kurz vor zwölf den obligatorischen Amtseid und verspricht dem Obersten Richter des Landes, John Roberts, die Verfassung der Vereinigten Statten „nach besten Kräften“ zu „wahren“, zu „zu schützen“ und zu „verteidigen“.
Jubelwellen schieben sich aus der Menge dem weißen Kuppelbau entgegen, wo gerade Geschichte gemacht wird, unterbrochen von 21 Kanonenböllerschüssen. Gänsehaut-Moment Nummer eins. Andere folgen, als James Taylor („America the Beautiful“), Kelly Clarkson („My Country Tis of Thee“) und die Soul-Diva Beyoncé Knowles, der die Nationalhymne herzerweichend grandios gelingt, die Stimme erheben. Selbst Milton Tucker, der unten im Menschengewusel mit vorlauten Sprüchen Kondom-Packungen mit Obama-Konterfei verkauft („for the hard times...") nimmt Haltung an.
Amtseinführung wie im Hollywood-Panorama-Format
Amerikas 57. Präsidenten-Amtseinführung, wie immer eine im Hollywood-Panorama-Format inszenierte Mischung aus religiösem Tiefschürfen, historisch randvoll aufgeladenen Ritualen, hohem Kloß-im-Hals-Anteil und Wies'n-Karneval (ohne Bier), findet nach dem Mittagsmahl der Ehrengäste mit Büffel, Hummer und Apfeltorte in der traditionellen Parade ihre Fortsetzung.
Dutzende Musikkapellen, vorzugsweise aus Schulen und Streitkräfteeinheiten aller 50 Bundesstaaten, ziehen gemeinsam mit Tanzgruppen 2,5 Kilometer über die von Zehntausenden gesäumte Pennsylvania Avenue bis zum Weißen Haus. Einigen Mädchen, die trotz Temperaturen in kurzen Röcken angetreten waren, gefror ab und an das Lächeln. Michelle Obama, in einen blauen Avantgarde-Mantel vom Thom Brown gekleidet, der auf die Krawatte ihres Gatten abgestimmt war, hatte es da wärmer.
Nach dem Schulmassaker in Newtown dimmt das Weiße Haus die Feierlaune
Am Abend folgt der gesellschaftliche Höhepunkt im örtlichen Kongresscenter: zwei (statt 2009 zehn) große Bälle mit bis zu 40.000 Gästen, darunter viele Militär-Veteranen, und dem „First Tanzpaar“ vornweg. Nach dem Schulmassaker in Newtown dimmte das Weiße Haus die Feierlaune etwas, um trauernde Landsleute nicht vor den Kopf zu stoßen. Martha Davis findet das angemessen. „So viel Leid. Ich bete jeden Tag für die Opfer.“
Nachdenklichkeit, die auch dem Mann des Tages eigen war. Zwei Jubiläen setzten Obama den Rahmen für seine hochpolitische Antrittsrede Vor 50 Jahren rief der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King in fußläufiger Entfernung seinen von da an unvergesslichen Erweckungsssatz „I have a dream“. 150 Jahre ist es her, seit Präsident Nr. 16, Abraham Lincoln, den Bürgerkrieg beendete und die Sklaverei gleich mit.
Obama bewegte sich trittsicher und wortgewaltig zwischen dem Kämpfer gegen den Rassismus und dem hageren Anwalt aus Springfield, der die USA ein zweites Mal begründete. „Unsere Reise ist nicht vorbei, solange unsere Mütter und Töcher nicht gleichberechtigt verdienen, solange unsere homosexuellen Brüder und Schwestern nicht so behandelt werden vor dem Gesetz wie jeder andere, solange unsere Bürger stundenlang warten müssen, um bei Wahlen ihre Stimme abzugeben, solange wir hoffnungsfrohe Einwanderer nicht besser willkommen heißen, solange unsere Kinder von Detroit bis Newtown nicht jederzeit sicher sein können.“
Obama appellierte eindringlich an den Gemeinsinn des Volkes und rief dazu auf, Trennendes nicht zu Unüberwindbarem zu machen. Andächtiges Lauschen, großer Beifall. Als Obama sich auf den Triumphzug zum Weißen Haus macht, winkt Martha Davis ihm euphorisch nach. Sie ist stolz auf den neuen, alten Präsidenten. „Er ist ein Glück für unsere Land.“