Essen. Bundestagsabgeordnete sind überproportional oft männlich, im Schnitt um die 50. Nur wenige sind zugewandert. Das Bild könnte sich ändern.
Verglichen mit der Gesamtbevölkerung sind Abgeordnete im Deutschen Bundestag überdurchschnittlich häufig männlich und Akademiker, sie haben seltener eine Zuwanderungsgeschichte und sie sind im Schnitt 50 Jahre alt. Im aktuellen Wahlkampf treten viele Politiker und Politikerinnen an, die dieses Bild ändern würden – auch in NRW.
„Einer von Millionen“: Essener will als erster Geflüchteter in den Bundestag kommen
Essen. Unlängst ist Shoan Vaisi mit seiner Tochter in Essen spazieren gegangen. Die Fünfjährige sah ein Flüchtlingsheim und wie Kinder so sind, sie hatte da einige Fragen: Wer wohnt da? Was sind Flüchtlinge? Haben die kein Geld? Vaisi antwortete und erzählte damit auch seine eigene Geschichte, die am 26. September eine durchaus historische Wendung nehmen könnte.
2011 kam der Iraner als politisch Verfolgter in einem Flüchtlingsheim in Castrop-Rauxel unter. Zehn Jahre später kandidiert der Linken-Politiker, Sozialarbeiter, Dolmetscher in Essen und deutscher Staatsbürger, für einen Sitz im Bundestag. Er ist Direktkandidat im Wahlkreis Solingen/Remscheid/Wuppertal II und abgesichert über den Listenplatz 12 der NRW-Linken. Holen die Linken in den Umfragen auf, könnte Vaisi als erster Geflüchteter ins Parlament kommen.
„Jeder Abgeordnete hat seine Lebensgeschichte, die seine Politik prägt“, sagt der 31-Jährige. „Meine Geschichte spielt zu zwei Dritteln in einem Land, das Freiheitsrechte, wie sie in Deutschland selbstverständlich sind, nicht kennt. Deshalb sind mir diese Grundsätze so wichtig.“
Vaisi ist kein politischer Neuling. Als Kurde gehörte er im Iran zu einer Minderheit, die als Volk nicht anerkannt wird. Er ist früh politisiert, schließt sich einer linken Gruppierung an und engagiert sich für die Rechte von Frauen. Mit 21 Jahren muss er fliehen. Er erlebt die Not des Ertrinkenden, die Erschöpfung des ewig Laufenden, die Ernüchterung des Ankommenden.
In Deutschland wird sein Schulabschluss nicht anerkannt und Vaisi muss von vorn anfangen: Er macht sein Abi mit Einserschnitt, arbeitet im Supermarkt, studiert soziale Arbeit. Er findet zurück zum Sport seiner Jugend, dem Ringen, und steigt mit dem TV Essen-Dellwig in die zweite Bundesliga auf. 2014 tritt er bei den Linken ein, für die sich der Essener kommunalpolitisch engagiert. Im April entscheidet sich Vaisi, für den Bundestag zu kandidieren. Kurz zuvor hatte der aus Syrien geflohene Jurist Tareq Alaows seine Bewerbung für die Oberhausener Grünen wegen rassistischer Anfeindungen zurückgezogen. Vaisi will weitermachen, wo Alaows aufhören musste. „Es wäre mir eine Ehre, wenn ich Menschen eine Stimme geben kann, die bisher keine im Parlament hatten“, sagt er. „Ich bin einer von Millionen.“
Als Politiker will der Sozialarbeiter, der in Altenessen beschäftigt ist, Armut und Ungleichheit bekämpfen. Er wirbt für mehr Entlastung der Kommunen, mehr Förderung benachteiligter Jugendlicher und eine Kindergrundsicherung. Und er will sich für eine andere Integrationspolitik einsetzen. Abschlüsse müssten leichter anerkannt werden, Asylverfahren beschleunigt werden und schnellere Zugänge zu Deutschkursen gewährt werden.
Von der Sorge, dass er Ziel von Hetze auch innerhalb des Parlaments werde, will sich Vaisi nicht lenken lassen. Er erhalte auch viel Zuspruch, sagt er. Seine Kandidatur habe etwas ins Rollen gebracht: Andere Geflüchtete schrieben ihm, dass auch sie in die Politik gehen wollten.
„Ich möchte Türöffner sein“: 27-jährige Transfrau kandidiert für die NRW-Grünen
Leverkusen. Nyke – lange vor dem Telefonat macht der Vorname neugierig auf die Frau dahinter. Sie habe ihn sich selbst aussuchen dürfen, sagt Nyke Slawik(27) dann. Die Grünen-Politikerin und Bundestagskandidatin ist transsexuell. 1994 als Junge in Leverkusen geboren, hat sie sich vor etwa zehn Jahren das Recht erkämpft, auch vor dem Staat als Frau anerkannt zu sein. Die Siegesgöttin wurde Namenspatin.
Folgt man Umfragewerten der Grünen, dürfte der Name am 26. September Programm sein: Mit einem 11. Platz auf der Landesliste der Grünen gilt Slawiks Einzug in den nächsten Bundestag als sicher. Dort wäre sie dann die erste offen bekennende transsexuelle Abgeordnete.
Sie habe selbst keine Vorbilder gehabt, aber welche gesucht, sagt Slawik über ihre Jugend zwischen Leverkusen und einem queeren Kölner Treff, in dem bi-, homo und transsexuelle junge Menschen zusammenkommen. „Ich habe mich gefragt, wo Menschen wie ich in der Politik oder auch in den Medien sind.“ Gerade für queere Jugendliche sei solch eine Sichtbarkeit wichtig. „Es gibt so viele, denen Vorbilder fehlen, die Gewalt und Ablehnung erleben. Für sie will ich Türöffner sein.“
Zur Politik kommt Slawik über einen Film: Als Jugendliche habe sie zu Hause den Dokumentarfilm „Eine unbequeme Wahrheit“ über die Folgen des Klimawandels gesehen. 2009, als CDU und FDP dem Ausstieg aus dem Atomausstieg den Weg bereiteten, tritt Slawik der Grünen Jugend bei. Sie kämpft gegen Atomkraft und Braunkohle, studiert Anglistik und Medienwissenschaften, kandidiert vergeblich bei Landtags- und Europawahlen und arbeitet für zwei Landtagsabgeordnete.
Etwa zur Zeit des Parteieintritts beginnt ihr Kampf, um endlich Geschlecht und Namen ändern zu können. Mit ihren Erfahrungen will sie sich im Fall eines Wahlsiegs für ein Selbstbestimmungsgesetz starkmachen. Damit müssten Transmenschen nicht mehr Gerichtsverfahren führen, teure Gutachter bezahlen und Therapeuten aufsuchen, um ihr Geschlecht anpassen zu können. „Obwohl die Weltgesundheitsorganisation Transsexualität seit 2018 nicht mehr als psychische Erkrankung führt, werden wir weiter pathologisiert.“
Auf ihre Lebensgeschichte reduzieren lassen will sich Slawik nicht. Ihr großes Anliegen ist eine klimafreundlichere Mobilität. Es gehe ihr nicht ums Verbieten, sagt sie gleich. „Ich habe selbst einen Führerschein und ich fahre auch gerne mal Auto.“ Slawik, die im Wahlkreis Leverkusen/Köln IV antritt, ärgert die „einseitige Förderung des Automobilverkehrs“ durch den Bund. „Bis 2030 werden 850 Kilometer neue Autobahnen gebaut, allein in NRW sollen 300 Projekte umgesetzt werden.“ Es brauche mehr Geld für Radwege und den Nahverkehr. Für die 27-Jährige geht es ums Soziale: „Es sind die mit dem geringen Einkommen, die an den vielbefahrenen Straßen mit Lärm und Schadstoffen in der Luft leben müssen.“
„Juli“-Vorsitzender für Chancengerechtigkeit: „Wir sind keine Bonzenpartei“
Bielefeld. Er studiert Philosophie, seine alleinerziehende Mutter hat ihr Geld als Reinigungskraft verdient und in den sozialen Medien fällt er mit Tweets zur sozialen Gerechtigkeit auf: Jens Teutrine entspricht kaum einem Klischee, das einem zur FDP einfällt. Will er auch nicht, wenn es um bestimmte Klischees geht: „Wir sind keine Bonzenpartei“, sagt der 27-Jährige. „Ich teile die Werte der FDP, dass Leistung und Tatendrang zählen, nicht die Herkunft.“
Seit einem Jahr sitzt der in Rheda-Wiedenbrück geborene Teutrine dem FDP-Nachwuchs „Junge Liberale“ (Julis) vor. Jetzt kandidiert er im Wahlkreis Herford/Minden-Lübbecke II für den Bundestag. Entscheidender ist der 18. Platz auf der FDP-Landesliste: Bei der Wahl 2017 zog die Liste bis Platz 20.
Der Weg war nicht vorgezeichnet. Als Kind hatte Teutrine eine Sprachbehinderung, andere Kinder hätten ihn teilweise nicht verstanden. Er besucht eine Sprach-Förderschule, macht Abitur, studiert in Bielefeld und arbeitet nebenher – als Nachtwache in einer Demenzbetreuung oder um 5 beim Bäcker. Mit 16 tritt er bei den „Julis“ ein, übernimmt 2017 den NRW- und 2020 den Bundesvorsitz.
Teutrine setzt sich dafür ein, Cannabiskonsum zu legalisieren, die Werbung für Schwangerschaftsabbrüche nicht länger zu verbieten, und für das Wahlrecht ab 16 Jahren. Einen Fokus setzt er auf Chancengerechtigkeit: Als „größte Leistungsfeindlichkeit“ bezeichnet er es, dass Jugendliche aus Hartz-IV-Familien von einem 450-Euro-Nebenjob nur 170 Euro behalten dürfen. „Diesen Kindern wird alles erschwert und dann müssen sie auch noch ihren Lohn abgeben. Das muss sich ändern.“ Teutrine wirbt für „Aufstiegs-Scouts“ und dafür, dass Förderangebote benachteiligte Kinder leichter erreichen müssten – per Klick wie beim Online-Einkauf.
Er wolle für seine Generation und jene sprechen, die noch nicht wählen dürfen: „In der Pandemie haben wir über Baumarkt-Öffnung geredet, aber nicht ausreichend über Schutzkonzepte der Kitas und Schulen. Die Jugend hat verdient, dass wir mehr für sie tun.“