Essen. Der Politikexperte Korte sieht nach der Bundestagswahl eine Dreier-Koalition in der Regierung. Ihre Hauptaufgabe: den Staat für Krisen zu rüsten.
Der Wahlkampf zur Bundestagswahl am 26. September geht auf die Zielgerade. Die drei großen Parteien Union, SPD und Grüne liegen wenige Wochen vor dem Urnengang in Umfragen Kopf an Kopf. Wer am Ende die Nase vorn haben wird, ist völlig offen. Welche Chancen hat der zuletzt wenig glücklich agierende Unionskandidat Armin Laschet? Was würde sein Einzug ins Kanzleramt für die Politik in Nordrhein-Westfalen bedeuten? Wie wird sich das Wahlergebnis auf die Landtagswahl am 15. Mai 2022 auswirken? Welcher Typ von Krisenmanager ist jetzt gefragt? Darüber sprach Christopher Onkelbach mit dem Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte von der Universität Duisburg-Essen.
In mehreren Umfragen schnitt die SPD zuletzt erstmals seit 15 Jahren besser ab als die Union. Ist das schon ein Hinweis auf einen Machtwechsel?
Karl-Rudolf Korte: Es gibt Lebenslinien von Regierungen. Der Countdown des Machtverfalls ist nach 16 Jahren nur extrem schwer aufzuhalten. Ohne Merkelismus wächst die Bereitschaft von Wechselwählern, die Sehnsucht nach neuen Auftritten zu belohnen. Auch vermeintliche Volkstribune in der Union könnten sich diesem Trend nicht widersetzen.
Hat Armin Laschet das Format zum Merkel-Nachfolger?
Armin Laschet regiert eines der größten Länder Europas mit nur einer Stimme Mehrheit geräuschlos, und das seit mehreren Jahren. Er hat exekutive Erfahrung und könnte als ehemaliger Ministerpräsident auch bundespolitisch Akzente setzen. Ich sehe viel Potenzial, um auch als Kanzler Aufgaben übernehmen zu können. Ich traue dies übrigens auch Annalena Baerbock und Olaf Scholz zu.
Aber die Zweifel daran wachsen nach Laschets unglücklichen Auftritten in letzter Zeit…
Dass sich die Umfragewerte verändern, hängt auch damit zusammen, dass jetzt erst vielen Menschen klar wird, dass Wahlen anstehen und Merkel nicht mehr antritt. Nun wird es konkreter, damit sortiert sich der Parteienmarkt neu. Dass Laschet Fehler macht, dass er mit seiner jovialen Art sehr unterschiedlich wahrgenommen wird, das ist ja bekannt. Aber er hat trotzdem seinen Weg oft schlingernd gemacht und ist Ministerpräsident geworden.
Womit rechnen Sie am Wahlabend?
Ich rechne mit drei halbstarken Parteien, die alle um die 20 Prozent einfahren werden. Wenn wir die FDP ergänzend dazunehmen, können sich viele verschiedene Dreier-Koalitionen bilden - und darauf wird es am Ende hinauslaufen. Es könnte sogar kommen wie markant 1976, dass der Zweite am Ende der Sieger ist. Damals hatte die CDU fast die absolute Mehrheit errungen, aber am Ende hat die SPD mit der FDP regiert.
Es könnte also sein, dass wir Laschet nicht im Kanzleramt sehen?
Ja, wir haben keinen Bayern-München-Effekt in diesem Wahlkampf, wir haben absolut neuartige Rahmenbedingungen, es gibt keine Titelverteidigerin und wir haben pandemische Ausnahmezeiten. Das macht Vorhersagen und Analogien sehr schwierig.
Zuletzt taumelte Laschet von einer Panne zur nächsten. In der Corona-Krise wirkte er ohne Linie, in der Flut-Katastrophe agierte er unglücklich und beim Fall von Kabul schürte er Angst vor Flüchtlingsströmen – ist das kanzlertauglich?
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Man muss jeden Fall einzeln betrachten. Die Corona-Bilanz von NRW ist nicht schlechter als die von Bayern, eher besser. Sein nachdenklicher und lernender Stil war in der Krise hilfreich angesichts der großen Wissenslücken über das Virus. In der Flutkatastrophe hat die Macht der Bilder dazu geführt, dass er sein angestrebtes Image als Krisenmanager mit einem Lächeln eingerissen hat. In der Afghanistan-Krise hat er widersprüchlich reagiert. Er hat immer zu den liberalen Politikern in der Union gehört, die Merkels Flüchtlingspolitik gestützt haben. Das war sein wichtiger Verdienst. Und das hat er mit dem Satz, 2015 dürfe sich nicht wiederholen, beschädigt.
Welcher Politikertypus ist angesichts der aktuellen Krisen bei den Wählern gefragt?
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Der Wähler sehnt sich nach einer Koalition, die verschiedene Führungstypen integriert. Unsichere Wähler wählen keine unsicheren Politiker. Insofern möchte man schon einen Krisenlotsen haben, der ein merkeliges Sicherheitsgefühl verströmt. Aber auch nicht nur einen Besserwisser und Ansager. Die einladende Kommunikation verbunden mit Entschiedenheitsprosa, das ist der Wunsch von vielen. Es gibt eine Sehnsucht nach Normalität und Stabilität, die sich in einer Dreier-Koalition niederschlagen wird. Rechnerisch wird es auch gar nicht anders gehen.
Worauf kommt es nun politisch an nach diesem Krisenjahr 2021?
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Es geht darum, den Staat krisenfest zu machen, den reparaturbedürftigen Nachsorgestaat in einen klug schützenden Vorsorgestaat umzuwandeln, was Klimawandel, Überschwemmungen, Cyberkriminalität, Pandemien und so weiter angeht. Es geht darum, den Staat zu rüsten für künftige Krisen. Wer eine resiliente Demokratie aufbauen kann, hat die Unterstützung der Menschen. Denn eine Wahl ist immer auch ein Gradmesser für das Vertrauen in die Akteure, ein Zukunftsversprechen, keine Abrechnung mit der Vergangenheit.
Welche Bedeutung wird es für NRW haben, wenn ein NRW-Ministerpräsident Bundeskanzler wird?
Bundestagswahlen haben immer Auswirkungen auf Düsseldorf. Sollte im Bund die SPD den Kanzler stellen, wird es mit Sicherheit einfacher für die Union in Düsseldorf, auch künftig den Ministerpräsidenten zu stellen. Umgekehrt gilt das aber ebenso. Sollte die CDU in Berlin erneut den Kanzler stellen, hat es die SPD in NRW leichter.
Warum ist das so?
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Diesen Effekt kennen wir aus der Wahlgeschichte. Die Menschen wählen gerne gegengerichtet, wollen sich vom Bundestrend absetzen. Hinzu kommt: Wenn die Regierungsbildung in Berlin lange dauert, stehen schon bald darauf die Landtagswahlen in NRW an. Die kurze Frist könnte diesen gegenläufigen Effekt verstärken. Das ist der Fluch des Wahlkalenders.
Sie sagten, dieses Mal gibt es keine Titelverteidigerin. Was wird bleiben von der Ära Merkel?
Man wird sich erinnern an das Stabilitätsgefühl, an vernunftgeleitete Politik, an ihre Empörungsresistenz, an akribische Sacharbeit. Man erinnert sich aber auch daran, dass es eigentlich ein unpolitisches Zeitklima war, das sie geprägt hat. Es gab eine Armut an Gestaltungszielen und damit an Diskussionen, Streit und Konflikten über Richtungsentscheidungen. Dem hat sie sich systematisch entzogen, weil sie immer Situationskanzlerin war. So hat sie die vielen Krisen in ihrer Amtszeit in den Augen vieler Menschen bravourös gemeistert. Aber sie hat wenig Möglichkeitssinn entfaltet. Auch das ist ihr Vermächtnis.
>>>> Zur Person:
Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. 2006 gründete er die NRW School of Governance, deren Direktor er bis heute ist. Von 2013 bis 2015 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft.
Korte ist ein gefragter Analyst bei Landtags- und Bundestagswahlen. Einer breiten Öffentlichkeit ist er durch seine Beiträge in Tageszeitungen, Magazinen und im Fernsehen bekannt.