Düsseldorf. Die NRW-Vorsitzende der Pädagogen-Gewerkschaft GEW, Ayla Çelik, warnt CDU und Grüne vor leeren Versprechungen in der Bildungspolitik.
Während in Düsseldorf noch gerätselt wird, wer künftig das ungeliebte Schulministerium leiten könnte, erhöht Ayla Çelik (53), NRW-Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), im Gespräch mit Matthias Korfmann schon den Druck auf ein mögliches schwarz-grünes Bündnis.
Frau Çelik, was erwarten Sie von einer neuen NRW-Regierung?
Çelik: Bildung endlich auskömmlich zu finanzieren. Für die Bundeswehr wurde sofort ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Für die Bildung ist seit Jahrzehnten kein Geld da. Eine neue Landesregierung muss hier mehr investieren als je zuvor und Bildungsberufe attraktiver machen. Die Pandemie hat gezeigt, wie defizitär die Bildung ist. Nun kommen aufgrund des russischen Angriffskriegs Kinder von Kriegsflüchtlingen in eine chronisch unterfinanzierte Bildungslandschaft mit eklatantem Personalmangel.
CDU und Grüne möchten 10.000 zusätzliche Lehrkräfte einstellen. Ist das realistisch?
Çelik: Nein. In der letzten Legislaturperiode sind eine Milliarde Euro wieder zurück in den Haushalt geflossen, weil tausende Stellen nicht besetzt werden konnten. Stellen unterrichten keine Kinder, sie müssen mit Menschen besetzt werden. Wie CDU und Grüne zusätzliche Lehrkräfte gewinnen wollen, steht an keiner Stelle im Sondierungspapier. Zudem brauchen Schulen multiprofessionelle Teams mit Lehrkräften, Sozialarbeitern und Psychologen. Sie brauchen Verwaltungsassistenten um LehrerInnen zu entlasten.
CDU und Grüne möchten „die Eingangsbesoldung für alle Lehrkräfte auf A13 anheben und Bestandslehrkräften den Aufstieg ermöglichen“. Klingt gut, oder?
Çelik: Auf den ersten Blick schon. Aber viele langjährig tätige Kolleginnen und Kollegen empfinden diesen Satz als Ohrfeige. Diese „Bestandslehrkräfte“ haben in der Pandemie hart gearbeitet, Referendare und Seiteneinsteiger ausgebildet. Man darf ihnen nicht schwammig einen „Aufstieg“ in Aussicht stellen. Sie haben sich ihren Anspruch auf A13 längst erarbeitet. Wir erwarten, dass Hendrik Wüst in den ersten 100 Tagen im Amt sein Versprechen einlöst, für alle Lehrkräfte in Grundschulen und der Sekundarstufe 1 die A13 einzuführen.
In manchen Quartieren im Ruhrgebiet gibt es Probleme, Lehrer-Stellen zu besetzen. Wie kann man das ändern?
Celik: Die Arbeit dort muss attraktiver werden. Gerade, wo Menschen in armen Verhältnissen leben, müssten viel mehr Lehrkräfte arbeiten. Das Gegenteil ist der Fall. Viele Pädagogen befürchten, an sogenannten Brennpunktschulen auszubrennen. Wenn für sie Lehrkräfte gewonnen werden sollen, geht das nur über gute Bezahlung, ordentliche Ausstattung der Schulen, kleinere Klassen und Doppelbesetzung.
Es gibt doch schon die ersten Talentschulen, und es sollen noch viel mehr werden. Inzwischen steht auch ein schulscharfer Sozialindex zur Verfügung.
Celik: Bei den Talentschulen geht es nicht um die besondere Unterstützung von Schulen mit schwierigen Bedingungen. Mindestens 1.000 Schulen – das ergibt der Sozialindex - benötigen zusätzliche Ressourcen. Derzeit wird das Vorhandene nur umverteilt. So ist der schulscharfe Sozialindex nur eine leere Hülle. Talentschulen erhalten einen Stellenzuschlag von 20 Prozent. Davon können selbst die drei Prozent der Schulen nur träumen, die als ganz besonders belastet gelten. Das kann gar nicht sein.
Der Rechtsanspruch auf Betreuung im Offenen Ganztag (OGS) rückt näher. Ist NRW darauf vorbereitet?
Celik: Nur in Ansätzen. Zumal der Offene Ganztag keine Verwahranstalt, sondern eine Bildungseinrichtung sein sollte. Wir müssen schnell mehr qualifiziertes Personal dafür gewinnen. Bundesweit gehen wir von einem Zusatzbedarf von ca. 50.000 Personen aus. Das gelingt nicht, wenn das Personal in der OGS prekär beschäftigt wird. Es muss unter fairen Bedingungen arbeiten und tariflich bezahlt werden.
Akademische und berufliche Bildung sollen laut CDU und Grünen „gleichwertig“ sein. Kritisieren auch Sie den Trend zur akademischen Bildung?
Celik: Wir sind in der Tat an einem Punkt angekommen, an dem scheinbar allein das Abitur Wert hat – am besten am Gymnasium erworben. Auch viele junge Menschen glauben, sie seien weniger wert, wenn sie kein Abitur haben. Das kann die Schulpolitik nicht lösen. Aber deren Orientierung an gymnasialer Bildung sollte reduziert werden. Das fängt früh an. Kinder werden schon im zarten Alter von zehn Jahren in unterschiedliche „Schul-Güteklassen“ geschickt. Das Gleiche sehen wir bei den Beschäftigten. Gesellschaftlich gilt auch die Hauptschul-Lehrkraft völlig zu Unrecht als weniger wert als die an Gymnasien. FachleiterInnen an Grundschulen verdienen erheblich weniger als FachleiterInnen in der gymnasialen Oberstufe. Erzieherinnen und Erzieher werden schlechter bezahlt als Lehrkräfte, dabei müsste eigentlich in die frühkindliche Bildung besonders viel investiert werden.
Wenn die Gesellschaft meint, wichtig sei nur das Abitur, dann muss man sich nicht wundern, wenn die berufliche Bildung nicht wertgeschätzt wird. Wir schaffen die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft aber nicht, wenn wir nur Akademiker haben. Der Kfz-Mechatroniker und die Elektrikerin zählen genauso viel. Und auch sie sollten die Chance haben, sich akademisch weiterzubilden.