Düsseldorf. Sitzenbleiben, Prüfungen, Übergang in weiterführende Schulen? Viele Fragen zum laufenden Schuljahr sind offen. Die Zeit wird knapp.

Angesichts der pandemiebedingten Probleme im laufenden Schuljahr wird der Ruf nach fairen Bedingungen für Abschlussprüfungen in NRW lauter. Der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm sagte dieser Redaktion, es gebe wegen der fehlenden Vorbereitungszeit gute Argumente dafür, in diesem Jahr die Abiturprüfungen durch eine Durchschnittsnote zu ersetzen.

„Das müsste dann allerdings bundesweit einheitlich geregelt werden, damit die Absolventen bei der Vergabe von Studienplätzen nicht unterschiedlich behandelt werden“, merkte Klemm an. Zudem müssten schwächere Schüler, die bei einem solchen Verfahren keinen Abschluss schaffen, die Chance erhalten, sich durch eine Nachprüfung zu verbessern.

Ist Sitzenbleiben unter diesen Umständen denkbar?

Auch die Landesschülervertretung fordert die Wahlmöglichkeit zwischen dezentralen Abschluss-Prüfungen oder einer Durchschnittsnote für Abitur und ZP10-Abschluss. Der NRW-Vorsitzende der Grünen, Felix Banaszak, unterstützt dies: „Abschlüsse sollten auf der Basis der bisher erbrachten Leistungen und mit Option freiwilliger Prüfungen vergeben werden.“

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Uneinigkeit herrscht beim Thema Sitzenbleiben. Während Banaszak der Ansicht ist, es könne – wie im Sommer 2020 – auch in diesem Schuljahr in NRW „kein erzwungenes Sitzenbleiben“ geben, warnt Bildungsforscher Klemm: „Damit wäre den betroffenen Kindern nicht geholfen.“

NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) hat schon Maßnahmen eingeleitet, die Schülern Prüfungen erleichtern sollen. So werden die Abiturprüfungen um neun Tage verschoben. Im Abitur und bei der ZP10-Prüfung wird der Aufgabenpool erweitert. Das erhöht die Chance auf Prüfungsthemen, die im Unterricht behandelt wurden.

Schulministerium lud Verbände zum Meinungsaustausch ein

Am Sonntag sprach Gebauer mit Vertretern von mehr als 30 Lehrer-, Schulleiter-, Eltern- und Schülerverbänden über den „Schulbetrieb in Coronazeiten“. Teilnehmer berichteten anschließend von einer insgesamt „fairen“ Gesprächsatmosphäre. Offensichtlich herrscht Konsens darüber, dass in NRW bis zum 14. Februar auch die Abschlussklassen weiter im Distanzunterricht bleiben. Einige Gäste kritisierten, dass die Landesregierung über den 14. Februar hinaus noch keine konkreten Pläne habe, mit welchen Unterrichtsmodellen es in den Schulen weitergehe.

Und über allem schwebt die Frage: Ist dieses Schuljahr überhaupt noch zu retten? Politik, Verbände und Gewerkschaften sind sich hier nicht einig. Fest steht nur: Es bleibt kaum Zeit zum Handeln. Hier ein Überblick über die Positionen.

Die Schulministerin

„Fair, gleichwertig und anerkannt“ werden die Schulabschlüsse 2021 sein, versichert NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer. Darauf hätten sich die deutschen Kultusminister geeinigt. Den Abschlüssen dürfe trotz Pandemie kein Makel anhängen. NRW hat schon Maßnahmen ergriffen:  Die Abi-Prüfungen werden um neun Tage verschoben. Es gibt in vielen Fächern beim Abitur und bei der ZP10-Prüfung zusätzliche Prüfungsaufgaben, damit Lehrer Aufgaben auswählen können, die zum erteilten Unterricht passen.

Der Oppositionspolitiker

„Wir werden in diesem Schuljahr nicht in eine normale Unterrichtssituation zurückkehren“, meint Felix Banaszak, NRW-Vorsitzender der Grünen. Er sagt: NRW könne nur „Schritt für Schritt über Wechselunterricht in Formen von Präsenzunterricht zurückkehren“. Zentrale Prüfungen müssten wegen fehlender Vergleichbarkeit „hinterfragt“ werden. Abschlüsse sollten auf der Basis der bisher erbrachten Leistungen und mit Option freiwilliger Prüfungen vergeben werden. Es könne in diesem Schuljahr auch kein erzwungenes Sitzenbleiben geben.

Die Verbände

In einem offenen Brief an die Landesregierung fordern Eltern, Schüler, Lehrer und Schulleitungen die Einrichtung eines Krisenstabs für die Schulen während der Corona-Pandemie. „Nur eine effiziente, ausschließlich mit dieser Aufgabe betraute Arbeitsgruppe aller Akteure kann die Probleme landesweit steuern“, heißt es in dem Schreiben, das von Vertretern von 14 Interessenverbänden und Gewerkschaften in NRW unterzeichnet wurde.

Das Bündnis fordert zudem eine bessere Beteiligung an politischen Entscheidungen und moniert, dass viel Vorschläge zur Verbesserung der Lage bislang an der regierungsamtlichen „Verwaltungsmauer“ abgeprallt seien. Die Schulen müssten „alternative Unterrichtsformen“ wie Wechselmodelle eigenständig umsetzen dürfen. Zudem müssten Klassenarbeiten und Prüfungsbedingungen der Situation angepasst werden. Weiter heißt es: „Den Abiturienten 2021 muss die Unsicherheit bezüglich einer nicht ausreichenden Unterrichtsvorbereitung genommen werden.“ Zudem sollten die zentralen Prüfungen am Ende der Klasse 10 (ZP10) wie im Jahr zuvor schulintern organisiert werden.

Die Schüler

Die Landesschülervertretung NRW (LSV) ist in Sorge um die Abschluss- und Abiturprüfungen. Sie fordert daher die Wahlmöglichkeit zwischen dezentralen Prüfungen oder einer Durchschnittsnote für den Abschluss. „2021 dürfen Abschlussprüfungen nicht wie gewohnt stattfinden“, so die LSV. „Es ist klar, dass sowohl inhaltliche Lücken von Schule zu Schule bestehen, darüber hinaus fehlt es den Schülern an Übung mit den Prüfungsformaten“, betont Johanna Börgermann vom LSV-Vorstand. „Durch die Corona-Krise werde „die soziale Auslese in den Schulen verstärkt“, so Timon Nikolaou vom LSV-Vorstand. Viele Schüler sind offenbar  extrem verunsichert und fordern Gehör von der Politik.

Der Bildungsforscher

Der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm unterstützt die Forderungen der Schüler. Es gebe gute Argumente dafür, in diesem Jahr die Abiturprüfungen durch eine Durchschnittsnote zu ersetzen. Dies müsse aber „bundesweit einheitlich geregelt werden, damit die Absolventen bei der Vergabe von Studienplätzen nicht unterschiedlich behandelt werden“. Schwächere Schüler, die bei einem solchen Verfahren keinen Abschluss schaffen, müssten die Chance erhalten, sich durch eine Nachprüfung zu verbessern.

Sorge bereiten dem Wissenschaftler auch die Grundschüler. Viele Kinder hätten zwei Lockdowns erlebt, die Leistungen der Schüler drifteten immer weiter auseinander. „Derzeit benötigen rund 17.000 Kinder in NRW drei Jahre für die ersten beiden Schuljahre“, so Klemm. Die Möglichkeit der verlängerten Schuleingangsphase sollte man ausbauen und die Eltern besser darüber aufklären, schlägt er vor. Zudem müsse der offene Ganztag für verpflichtende Förderangebote genutzt werden, um ausgefallenen Stoff nachzuholen. Dafür könnten auch Lehramtsstudierende eingesetzt werden, meint Klemm. Angehende Gymnasiallehrer könnten am Ende ihres Referendariats verpflichtet werden, für eine gewisse Zeit an Grundschulen zu unterrichten. Klemm: „Es wäre nicht schädlich, wenn sie dort Erfahrungen sammeln und ihre späteren Schüler kennenlernen würden.“

Das Abschaffen des Sitzenbleibens sieht Klemm skeptisch. Damit wäre den betroffenen Kindern nicht geholfen, das Problem werde nur ins nächste Schuljahr verschleppt. „Für diese Kinder müsste es spezielle Fördermaßnahmen am Nachmittag geben.“

Ruf nach "Kooperationsgebot"

Grünen-Landeschef Felix Banaszak fordert angesichts der Pandemie die Möglichkeit einer stärkeren Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. „Aus dem Kooperationsverbot sollte ein Kooperationsgebot werden, insbesondere wenn es um Digitalisierung und den Ausgleich sozialer Ungleichheit geht“, sagte er dieser Zeitung. Derzeit dürfen Bund und Länder nur sehr eingeschränkt in Bildungsfragen zusammenarbeiten.

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