Washington. Der 40-jährige Attentäter, der in einem Gotteshaus der Sikhs ein Blutbad anrichtete, war ein Anhänger der amerikanischen Rassisten-Szene. Er war 1998 unehrenhaft aus der Armee entlassen worden - und hat offenbar Sikhs mit Muslimen verwechselt.

Am Tag danach wich in dem Gotteshaus der Sikhs an der South Howell Avenue in Oak Tree/Wisconsin allmählich der Schock - und machte den Weg frei für noch größeres Entsetzen. Nach vorläufigen Einschätzungen der Bundespolizei FBI hat der 40-jährige Wade Michael Page den Amoklauf in dem Tempel der aus Nordindien stammenden Glaubensgemeinschaft, bei dem am Sonntag sieben Menschen starben, offenbar aus rassistischen Motiven verübt. Der Fall rangiert bei der Polizei unter der Überschrift „Inlands-Terrorismus“.

Attentäter spielte in Neonazi-Band

Die Behörden beschreiben den 1998 unehrenhaft aus der Armee entlassen Mann, der vor Beginn des Gottesdienstes gegen 10 Uhr mit einer Schnellfeuerpistole in den Tempel „Gurudwara Sahib“ eindrang und das Feuer eröffnete, als „white supremacist“. Dabei handelt es sich um eine Bewegung weißer, militanter, neonazistischer Rassisten, die sich Schwarzen, Juden und anderen Minderheiten überlegen fühlen und in den USA für etliche "hate crimes" (Hass-Delikte) verantwortlich sind.

Der Attentäter Timothy McVeigh, der 1995 in Oklahoma City ein Regierungsgebäude in die Luft sprengte, dabei 168 Menschen in den Tod riss und rund 800 schwer verletzte, wurde diesem Sammelbecken zugerechnet. Page, der nicht vorbestraft war, trug eine Tätowierung auf dem Arm, die seinen Hass auf die Terror-Attentäter des 11. September 2001 zum Ausdruck bringt, und war Mitglied der Neonazi-Punkband „End Apathy“. Noch ist es ein Verdacht, weil klare Indizien bisher fehlen: Die Fahnder gehen davon aus, dass der kahlköpfige, kräftig gebaute Mann die traditionell Turbane und lange Bärte tragenden Sikh-Männer mit radikalen Muslimen und Sympathisanten der afghanischen Taliban verwechselt haben könnte.

Sikhs vielfach mit Muslimen verwechselt - und terrorisiert

 „Es kann doch nicht sein, dass Menschen die Unterschiede zwischen den Religionen nicht kennen und dich automatisch für einen Taliban halten, nur weil du am Kopf anders aussieht“, entrüstete sich die Geschäftsfrau Ravi Chawla gegenüber der Zeitung „Milwaukee Sentinel“.

Wortführer der Sikhs appellierten an die Regierung in Washington, sie möge mehr für den Schutz der Glaubensgemeinschaft tun, die nach den Terror-Anschlägen von New York und Washington ausweislich amtlicher Statistiken rund 700 Mal Opfer von Übergriffen geworden ist. Ins kollektive Bewusstsein der Sikhs hat sich dabei die Erschießung des Tankstellen-Besitzers Balbur Sing Sodhi in Arizona eingegraben. Er starb im September 2001 nach fünf Kugeln, als sich ein Amerikaner für die Attentate in New York und Washington rächen wollte. Der Täter hatte Sodhi vor den tödlichen Schüssen als Muslim beschimpft. 2008 trug Baljeet Singh (63) eine gebrochene Nase davon, als er in New York wegen seines „arabischen“ Aussehens überfallen worden war. Im vergangenen Jahr wurden zwei ältere Sikh-Männer beim Spaziergang in Elk Grove bei Sacramento/Kalifornien erschossen. Zwei Monate vorher prügelten Unbekannte den Taxifahrer Harbhajan Singh an gleicher Stelle beinahe zu Tode und stießen dabei rassistische Flüche aus. Im Februar dieses Jahres wurde ein Sikh-Tempel in Michigan mit fremdenfeindlichen Parolen beschmiert.

Amerikaner mit indischen Wurzeln sehr erfolgreich

Die Tragödie in der Kleinstadt Oak Tree nahe Milwaukee kontrastiert mit dem gesellschaftlichen Aufstieg der rund drei Millionen „indian americans“, wie man in den USA Einwanderer vom Subkontinent nennt. Die neben Chinesen und Filipinos am schnellsten wachsende Einwanderergruppe aus Asien (plus 55 % seit 2000) liegt bei Bildungsabschlüssen, Durchschnittseinkommen und Sozialstatus weit über dem US-Durchschnitt. Viele „indian americans“ sind selbstständig, vor allem im Technologiebereich. Nur fünf Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze, im Durchschnitt sind es unter allen Amerikanern über zehn Prozent.

Mit Stolz und Zufriedenheit erfüllte viele der rund 500 000 Sikhs (weltweit sind es 25 Millionen) in Amerika, als 2010 mit Nimrata Randhawa Haley die Tochter einer Einwandererfamilie aus der Sikh-Hochburg Amritsar in Nordindien Gouverneurin des Südstaates South Carolina wurde. Neben Bobby Jindal, seit 2008 Gouverneur von Louisiana, ist „Nikki“ Haley die zweite Person indischer Herkunft, die es auf den höchsten Posten geschafft hat, den die 50 US-Bundesstaaten zu vergeben haben. Beide gelten als potenzielle Kandidaten für die Rolle des Vizepräsidenten an der Seite des Republikaners Mitt Romney.

Druck auf US-Behörden aus Indien

Bei der Aufklärung der Bluttat, bei der ein Polizist lebensgefährlich angeschossen und der Täter von einem zweiten Beamten getötet wurde, stehen die US-Behörden unter Druck. Indiens Premierminister Manmohan Singh, selbst Sikh, sprach von einer „entsetzlichen Bluttat“. Vertreter der Sikhs in Indien forderten größere Anstrengungen Amerikas, seine Bürger über die verschiedenen Ethnien und Religionsgemeinschaften wirkungsvoller aufzuklären.

US-Präsident Barack Obama hatte bereit kurz nach dem Massaker in einem Telegramm den Familien der Opfer sein Beileid ausgesprochen und festgestellt: “Wir trauern über den Verlust, der sich in einer Stätte des Glaubens ereignet hat. Es erinnert uns, wie sehr unser Land bereichert wird durch die Sikhs, die ein Teil der erweiterten amerikanischen Familie sind.” Als Vorsichtsmaßnahme werden Sikh-Tempel in New York, Chicago und anderen Städten seit Sonntag gesondert gesichert.

Anschlag bei der Zubereitung des gemeinsamen Mahls

Unterdessen wurden neue Details bekannt, die das Ausmaß der Tragödie in Oak Tree verdeutlichen. Danach waren zum Zeitpunkt der Tat rund 40 Sikhs in dem Tempel. Frauen und Kinder bereiteten in der Küche das traditionelle Mahl vor, zu dem nach dem für 11.30 Uhr geplanten Gottesdienst auch nicht gläubige Gäste willkommen sind. Darshan Dhaliwal, eine der Frauen erinnert sich: „Als die Schüsse fielen, haben wir uns in Schränken versteckt und gebetet. Wir konnten das verbrannte Öl auf dem Herd riechen.“ Wäre der Todesschütze eine halbe Stunde später aufgetaucht, so Dhaliwal, wäre der Tempel mit 200 Menschen mehr gefüllt gewesen. „Gar nicht auszudenken, was dann hätte geschehen können.“ Wie Dhaliwal so kamen gestern im ganzen Land Sikhs zu Trauerfeiern zusammen und riefen sich dabei die Formel ihres Religionsgründers Guru Nanak in Erinnerung, der mit dem Sikhismus (Sikh = Schüler) Hinduismus und Islam vereinen wollte: „Kein Hindu, kein Moslem - nur Menschen".

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