Essen.. Die Reaktorkatastrophe von Fukushima hat Japan dauerhaft beschädigt. Tausende arbeiten noch auf Jahre in der Ruine, Zehntausende können nicht mehr in ihre Häuser. Und nicht einmal dem Reis kann man noch trauen.
Es gibt Menschen in Japan, denen noch nicht die Zeit blieb, über das Geschehene nachzudenken. Sie in ihrer Gänze zu erfassen: Die drei Katastrophen, die vor einem Jahr über das Land hereinbrachen. So wie Godzilla, das Filmmonster, das japanische Tricktechniker vor 60 Jahren aus der Bucht von Tokio stiegen ließen. Ein Geschöpf, geboren aus der Atombombe, mit der Urgewalt von Tsunami und Erdbeben. Fukushima, ein Jahr danach.
52 der 54 japanischen Reaktoren sind nach der Nuklearkatastrophe abgeschaltet. Die beiden noch verbliebenen Kraftwerke sollen im April vom Netz gehen, um auf Sicherheitslücken geprüft zu werden. Vieles, nicht alles hat sich normalisiert. Wie wird der Sommer sein, den wir bald erleben?, fragt Masako Konishi. Ist es Japans erster Sommer ohne Atomenergie?
Die Bilder konnten dich einfach nicht wahr sein
Damals, nach dem 11. März, habe sie die TV-Bilder und Nachrichten nicht glauben können: die Wasserstoffexplosionen im Kernkraftwerk Fukushima 1, die Berichte über Kernschmelzen, die verzweifelten Versuche, die Kühlung wieder in Gang zu bekommen. „Das alles konnte doch nicht wahr sein“, sagt die 53-Jährige, die einst im Fernsehen das Wetter moderierte und nun bei der Umweltstiftung WWF in Japan den Bereich Klimaschutz und alternative Energien leitet.
„Für uns waren das zynische Bilder“, sagt sie. „Da kämpften Feuerwehrleute damit, Löschwasser in diese High-Tech-Reaktoren zu fluten. Eigentlich dachten wir, unsere Atomanlagen wären die fortschrittlichsten auf der Welt. Und nun diese Bilder.“
Tausende Arbeiter halten die Ruine in Schach
Dort, wo der Hochtechnologie die Kühlung versagte, wird nur langsam das Ausmaß des Unfalls sichtbar. Immer noch halten Tausende Arbeiter die Atomruine Fukushima in Schach. Die Strahlung im Inneren der Reaktorgebäude ist zu hoch, um sich dort aufzuhalten. Millionen Liter Kühlwasser werden in die Reaktorbehälter eingeleitet, müssen später gereinigt werden. Trotz aller Zerstörung: Immer noch wird Nachwärme produziert.
Offiziell gilt, dass sich die Lage in der havarierten Anlage stabilisiert hat. Im Dezember 2011 teilte Kraftwerksbetreiber Tepco mit, dass die „Kaltabschaltung“ erreicht sei. Gemeint ist: Die Temperaturen des Kühlwassers rund um die zerstörten Reaktorkerne waren gesunken, im Schnitt auf unter 50 Grad. Im neuesten Statusbericht des Internationalen Atomenergie-Organisation IAEA von Ende Februar wird dies bestätigt. Es ist ein kleiner Erfolg. Doch bis Normalität einkehrt, werden wohl Jahrzehnte vergehen.
Ein Sarg aus Beton für alle Reaktoren?
Die „Fukushima Roadmap“, so heißt das Sanierungsprogramm von japanischer Regierung und Betreiber Tepco, ist bis zur Mitte des Jahrhunderts angelegt. Dabei ist offen, ob die Ruine jemals vollständig abgetragen werden kann. Erst müssen in den drei zerstörten Reaktorkernen die Reste der geschmolzenen Brennstäbe geborgen werden. In Block vier gilt es, die Stäbe aus dem Abklingbecken zu entfernen. Für den Fall, dass diese Pläne scheitern, wird eine andere Lösung erwogen: Ein Sarg aus Beton soll die Fukushima-Reaktoren abdichten.
Unbeantwortet bleibt die wichtigste Frage, die nach den gesundheitlichen Folgen der Katastrophe. Klar ist: Als die Wasserstoff-Explosionen die Dächer der Reaktorgebäude wegsprengten, gelangten radioaktive Substanzen ins Freie – Jod-131, Cäsium, Strontium. Doch blieb den Menschen in Japan Schlimmeres erspart, als die radioaktive Wolke in den ersten Tagen aufs Meer hinaus zog und nicht in Richtung der Millionenstadt Tokio trieb. Jod-131, das sich in der Schilddrüse festsetzt, hat eine Halbwertszeit von nur acht Tagen. Bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl traf es ahnungslose Menschen im Umkreis. In Fukushima gab es womöglich eine geringere Zahl an Betroffenen.
150.000 wissen nicht, ob die wieder zurück können
Offiziellen Daten zufolge wurden nach der Katastrophe 150.000 Menschen evakuiert, die meisten wohnten innerhalb der 20-Kilometer-Zone rund um das havarierte Kraftwerk. Ob sie wieder zurück können, ist offen. Außerhalb dieser Zone sei das Risiko gering, sagen Experten. Niemand aber kann sagen, welche Wirkung eine langfristig niedrige Strahlung auf den Menschen hat.
Eben weil abgesicherte und langfristige Studien fehlen, tobt der Kampf um die Deutungshoheit. Die atomkritische „Gesellschaft für Strahlenschutz“ in Hannover sammelt Daten japanischer und internationaler Wissenschaftler. Sie glaubt, dass das wahre Ausmaß der Belastung nur erahnt und die freigesetzte Aktivität kaum abgeschätzt werden kann. Solange die havarierten Reaktoren nicht dicht seien, gelange kontinuierlich Radioaktivität in die Umwelt.
Erst der Fisch, dann das Fleisch und jetzt auch Reis
Die unbekannten Gefahren bedrohen die Existenzgrundlage Japans: die Grundnahrungsmittel. Das Meer vor der Ostküste ist offenbar stärker verstrahlt als bislang bekannt. Vor einigen Wochen kündigte Tepco an, den Meeresboden auf einer Fläche von zehn Fußballfeldern zu betonieren, mit einem 60 Zentimeter dicken Betondeckel abzudichten. Tepco hatte unmittelbar nach dem Unfall mehrmals radioaktiv belastetes Wasser ins Meer abgelassen.
Wissenschaftler warnen nun vor den Folgen einer großräumigen Verdünnung der radioaktiven Stoffe und ihrer Anreicherung in den Nahrungsketten: in Fischen, Meeresvögeln, Algen. Aber auch an Land rund um die Ruine werden neue Belastungen entdeckt – im Rindfleisch, im Gemüse und Ende vergangenen Jahres erstmals im Grundnahrungsmittel der Japaner: im Reis. Cäsium-Messungen stehen seitdem im Mittelpunkt. 60 Jahre dauert es, ehe dieser radioaktive Stoff wieder vollständig verschwunden ist.
Krisen-Premier Naoto Kan ist verbittert
„Arglos gegenüber den drohenden Gefahren“ sei sein Land gewesen, sagt der ehemalige japanischer Premier Naoto Kan nun rückblickend. Er räumt „schwere Fehler“ und ein „katastrophales Krisenmanagement“ ein. Japans Glaube an die Beherrschbarkeit der Atomkraft? „Das war keine Naturkatastrophe und auch kein technisches Versagen“, sagt Kan. „Diese Katastrophe wurde von Menschen verursacht.“