Essen. Migrantenorganisationen in NRW kritisieren Ungleichbehandlung in der Flüchtlingspolitik. Menschen aus der Ukraine hätten mehr Rechte als andere.
Knapp 150.000 Flüchtlinge aus der Ukraine haben nach offiziellen Zahlen NRW bisher erreicht, zwei Drittel von ihnen sind Frauen und Kinder. Eine Welle der Hilfsbereitschaft schlägt den Vertriebenen entgegen. Viele Bürgerinnen und Bürger starteten Spendenaktionen, unterstützen die Geflüchteten mit Kleidung, Geld oder bei Behördengängen, nehmen sie sogar zu Hause auf. Schulen und Kitas öffnen bereitwillig ihre Pforten, Behörden machen Überstunden. Die Willkommenskultur scheint groß: 72 Prozent der Menschen in NRW sind laut einer aktuellen Forsa-Umfrage überzeugt: Wir schaffen das.
Zugleich sind manche Flüchtlinge aus anderen Ländern wie Afghanistan, Syrien, Afrika oder dem Nahen Osten erstaunt und irritiert. Es gibt keine aufgeheizten Debatten über Integration, Kultur und Religion, über „Überfremdung“ oder „Obergrenzen“. Und schon gar keine Protestaufmärsche und Brandanschläge, wie sie Deutschland nach dem „Flüchtlingsherbst“ 2015 erlebte. Wieso wird, so fragen manche Flüchtlingshelfer, eine ausgebombte Familie aus dem syrischen Aleppo offenbar anders behandelt als eine aus Mariupol? Gibt es die „guten“ Flüchtlinge – und die anderen?
Sprachkurse, Aufenthalts- und Arbeitsrecht
„Ja, es gibt eine konkrete Ungleichbehandlung von Geflüchteten je nach Herkunft“, sagt Ümit Kosan. „Das ist unter Migranten, vor allem bei jenen mit Fluchtgeschichte, derzeit ein großes Thema.“ Kosan ist Geschäftsführer des VMDO, dem Verbund sozial-kultureller Migrantenorganisationen in Dortmund, und hat mit seinem Team aus ehrenamtlichen Helfern in NRW in den letzten Wochen Hunderten Menschen aus der Ukraine geholfen, sie beraten und begleitet.
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„Die Migranten mit Fluchtgeschichte fragen sich: wieso werden Geflüchtete aus der Ukraine anders behandelt als wir? Wieso bekommt das Asylgesetz für diese Menschen einen anderen, angepassten Umsetzungsrahmen? Die Flüchtlinge aus der Ukraine erhalten Sozialhilfe und wir nicht? Wieso bekommen sie sofort einen Platz in einem Sprachkurs und wir nicht? Warum müssen sie keinen Asylantrag stellen? Und wieso dürfen sie arbeiten?“ Er bezeichnet dies als „Krisenrassismus in der Flüchtlingspolitik“ vor.
Unmut unter Migranten mit Fluchtgeschichte
Geflüchtete Migranten erleben, schildert Kosan, dass ukrainische Flüchtlinge mit Bussen oder Privatautos an den Grenzen abgeholt werden und zum Teil in privaten Wohnungen unterkommen. Für Ukrainerinnen und Ukrainer hätten Ausländerbehörden und Sozialämter Extra-Termine eingerichtet, während Geflüchtete aus anderen Ländern keine Termine bekämen, obwohl ihre Duldung abzulaufen drohe. Für großen Unmut sorge auch, dass in einigen Bundesländern Geflüchtete in Notunterkünften zusammenrücken mussten, um Platz für Vertriebene aus der Ukraine zu schaffen.
Kosan kann zahlreiche Beispiel aufzählen. Doch er will auch nicht falsch verstanden werden: Er freut sich über die Willkommenskultur, fragt aber: „Wieso gelten nicht für alle die gleichen Regeln?“ Viele Migranten mit Fluchtgeschichte seien traurig, sagt er, enttäuscht und auch empört. „Die Hoffnungslosigkeit wächst.“
EU-Richtlinie gewährt Schutz
Auch Birgit Naujoks, Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats NRW, beklagt die Ungleichbehandlung von Flüchtlingen aus der Ukraine und Schutzsuchenden aus anderen Ländern. Sie findet deshalb den Vorwurf, diese Flüchtlingspolitik sei rassistisch, zumindest „nachvollziehbar“. Das sei aber nicht nur eine Frage von Moral und Menschenwürde. „Es hat auch einen rechtlichen Hintergrund“, erklärt Naujoks und verweist auf die „Richtlinie über die Gewährung vorübergehenden Schutzes“ („Massenzustrom-Richtlinie“) der Europäischen Union.
Diese Richtlinie existiert zwar bereits seit rund 20 Jahren, trat aber nach dem russischen Angriff auf die Ukraine Anfang März zum ersten Mal in Kraft. Sie senkt auch in Deutschland die Hürden für die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine. Durch die neue Regelung müssen ukrainische Schutzsuchende kein zermürbendes Asylverfahren mehr durchlaufen. Sie erhalten sofort einen Aufenthaltsstatus, der auf drei Jahre verlängert werden kann, sowie eine Arbeitserlaubnis, Anspruch auf Sozialleistungen, Schulbildung, Gesundheitsversorgung und eine angemessene Unterkunft.
Kulturelle Nähe zur Ukraine
„Warum wurde diese Richtlinie nicht schon 2015 angewendet“, fragt Naujoks mit Blick auf die große Zahl damals ankommender Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien und Irak. Zudem erhielten ukrainische Flüchtlinge ab Juni Sozialhilfe (Hartz IV) und nicht die niedrigeren Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Auch hätten sie sofort Anspruch auf Integrations- und Sprachkurse. „Damit sind sie deutlich bessergestellt als Flüchtlinge aus anderen Ländern“, sagt Naujoks. „Ich bin erstaunt und erfreut über die Maßnahmen der Politik für die ukrainischen Flüchtlinge“, stellt sie klar. „Doch alle anderen sollten genauso gut gestellt werden.“
„Das ist nicht gerecht“, meint auch Ludger Pries, Sozialwissenschaftler und Migrationsforscher an der Ruhr-Uni Bochum. Er sieht darin auch eine Frage der gesellschaftlichen Einstellung. Die Ukraine gelte als Teil Europas. Das könne ein Gefühl der Solidarität mit den Flüchtlingen erzeugen. Die Kultur der Menschen in der Ukraine, ihre Werte, ihr Glaube, ihre Lebensweise sowie ihr Bildungsstand erscheinen uns verwandt, meint Pries.
Flüchtlingsschutz für alle
Der Spruch, wonach uns das Hemd näher sitzt als der Rock, der stimme leider auch in diesem Fall. Menschen, die man zu kennen glaubt, werden seltener mit Vorurteilen bedacht als jene, die uns fremd erscheinen, zitiert Pries die bekannte „Kontakthypothese“ der Sozialwissenschaft. Doch er stellt klar: „Flüchtlingsschutz muss für alle gewährt werden, unabhängig von Hautfarbe, Alter, Glaube, Religion oder kultureller Nähe.“
Dass die Hilfsangebote für die Menschen aus der Ukraine in den Kommunen so schnell und zielgenau aufgebaut wurden, Arbeitsmarktzugang und Einstieg in die Sozialsysteme so rasch geregelt wurden, sei auch ein Resultat der Erfahrungen aus den Krisenjahre 2015/16. „Es ist eine Mischung aus Lerneffekt und diskriminierenden Elementen“, meint Pries.
Flüchtlingshelfer Ümit Kosan will das nicht hinnehmen: „Das Asylrecht muss für alle gleich sein - das ist ein demokratischer Grundsatz.“
>>>> Flüchtlinge in NRW
Nach Angaben des Integrationsministeriums befanden sich zum Stichtag 13. Mai 147.451 Vertriebene aus der Ukraine in den Kommunen in Nordrhein-Westfalen. 913 lebten in den Unterkünften des Landes.
Zum Vergleich: Im Jahr 2015 erreichten 231.878 Asylsuchende NRW. Die Hauptherkunftsländer waren Syrien, Irak und Albanien. Im Jahr 2016 suchten 70.814 Menschen Asyl in NRW. Sie kamen in der Mehrzahl aus Syrien, Irak und Afghanistan.