Essen. Der Bundesrat will Kitas und Schulen entlasten und eine Frist zur vollständigen Umsetzung der Masernimpflicht verlängern. Es hagelt Kritik
Ein Vorstoß des Bundesrats, die vollständige Umsetzung der Masern-Impflicht in Kitas und Schulen zu verschieben, sorgt für heftige Kritik unter Kinder- und Jugendärzten. Dies sei unverantwortlich, sagte Jörg Dötsch, Direktor der Kinderklinik an der Uniklinik Köln und Präsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ). „Masern sind eine hochansteckende Infektionskrankheit“, mahnte Dötsch. „Gerade in der jetzigen Zeit muss es geboten sein, solche gefährlichen Erkrankungen zu bekämpfen.“
Seit dem 1. März 2020 müssen Eltern vor der Aufnahme ihrer Kinder in Kitas oder Schulen nachweisen, dass diese gegen Masern geimpft sind. Die Pflicht greift ab einem Alter von einem Jahr und gilt auch für Beschäftigte in den Einrichtungen, die nach 1970 geboren sind. Der Gesetzgeber räumte aber eine Frist ein: Kinder und Beschäftigte, die am 1. März 2020 bereits in den Einrichtungen betreut wurden oder dort tätig waren, müssen den Nachweis bis zum 31. Juli 2021 vorlegen.
Auf Initiative des Landes Niedersachsen sprach sich der Bundesrat nun dafür aus, diese Frist bis Ende 2022 zu verlängern. Die Bundesregierung werde gebeten, eine Verlängerung zu prüfen, heißt es in der Entschließung. Die Länderkammer will die in der Pandemie geforderten Kitas, Schulen und Gesundheitsämter entlasten. NRW unterstützte den Vorstoß nicht. Entschließungen ziehen keine Fristen oder Verpflichtungen nach sich. Der Bund muss sie nicht aufgreifen.
Kinderärzte warnen vor hochansteckender Erkrankung und fordern Tempo
Die DAKJ, Dachverband der kinder- und jugendmedizinischen Gesellschaften und Fachverbände Deutschlands, ist dennoch alarmiert und warnte, dass Kitas und Schulen eine ungleich höhere Belastung bevorstünde, wenn es zu Maserninfektionen komme. DAKJ-Präsident Dötsch zog den Vergleich zum Corona-Virus. „Bei Covid-19 gehen wir von einer Durchimpfungsrate von 60 Prozent aus, um die Gesamtbevölkerung zu schützen. Bei den hochansteckenden Masern müssen wir 95 Prozent erreichen.“ Im Gegensatz zu Covid-19 seien Kinder von Masern zudem sehr viel stärker bedroht, das Risiko eines langen Leidenswegs sei auch ungleich höher als bei Covid, mahnte Dötsch.
Axel Gerschlauer, Sprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte in NRW, nannte den Bundesrats-Vorstoß ein Armutszeugnis. „Es war ausreichend Zeit, das Masernschutzgesetz umzusetzen. Vor lauter Corona-Pandemie darf nicht alles andere hinten rüber fallen“, sagte der in Bonn niedergelassene Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin. Bereits die ursprüngliche Übergangsfrist im Gesetz sei zu lang gewesen.
Gewerkschaft GEW in NRW: Kein unnötiges Risiko eingehen
Unterstützung erhalten die Mediziner von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in NRW. Die stellvertretende Landesvorsitzende Ayla Çelik sagte, dass Kollegen und Kolleginnen vor Ort ein großes Interesse hätten, dass die Masernimpfungen zügig stattfinden. „Wir sollten hier kein unnötiges Risiko in einer Zeit eingehen, in der vor Ort bereits große Ängste und Unsicherheiten herrschen.“ Schulen und Kitas würden zwar mit vielen unnötigen Dokumentationspflichten belastet, die Impfdokumentation aber sei „sinnvoll“.
Anlass für das Masernschutzgesetz war eine nicht ausreichend hohe Impfquote. Die Impfpflicht unter anderem für Kitas und Schulen hat auch Kritik provoziert und zu Gerichtsverfahren geführt. Wer keinen ausreichenden Nachweis erbringt, darf in den Einrichtungen weder betreut noch tätig werden. Das gilt nicht für Personen, die der Schulpflicht unterliegen.
Zuletzt waren Maserninfektionen in NRW deutlich zurückgegangen. Das Landeszentrum Gesundheit nannte unlängst für 2020 noch 20 gemeldete Fälle, 115 weniger als ein Jahr zuvor. Fachärzte wie Axel Gerschlauer aus Bonn warnen vor einer „Scheinsicherheit“: „Durch die Hygienemaßnahmen in der Pandemie haben wir insgesamt einen totalen Rückgang bei Infektionskrankheiten. Ich habe seit Monaten keine Läuse mehr gesehen.“ Die Masern seien nicht verschwunden.