Düsseldorf. Die Partei ist ein Jahr vor der Landtagswahl im Höhenflug, will aber thematisch breiter werden. Deshalb hört sie auf Nicht-Mitglieder.
Am Anfang steht das Du. In den kommenden drei Stunden, die über die Zukunft der nordrhein-westfälischen Grünen mitentscheiden sollen, wolle man sich beim Vornamen anreden, schlägt der Moderator etwas unvermittelt vor. Keiner der Gäste hat Einwände, obwohl sie einander gerade zum ersten Mal sehen. So viel Teestuben-Atmosphäre ist sich eine unaufhaltsam wachsende Ökopartei wohl noch schuldig.
Es ist ein Freitagabend Mitte März. Ein Beratungsunternehmen aus Baden-Württemberg hat im Auftrag der NRW-Grünen rund 20 NRW-Bürger in einer Video-Konferenz zusammengeschaltet, um von ihnen zu erfahren, welche konkreten Regierungsziele bis Ende des Jahres im Landtagswahlprogramm 2022 verankert werden sollen. Erstmals dürfen Nicht-Mitglieder mitbestimmen. Sie sind über die Kreisverbände und eine aufwändige programmatische Ideensammlung ausgewählt worden.
Ein neues Ziel: Sich nicht mehr selbst genug zu sein
So versammeln sich in einer Art digitalem Stuhlkreis der engagierte Lehrer, die Schülerin aus der Flüchtlingshilfe, der Informatiker aus der Bürgerinitiative, die interessierte Mutter. Leute aus der Mitte der Gesellschaft, die für die Grünen ansprechbar sind, aber eben mit Parteipolitik nichts am Hut haben. Das Beratungsunternehmen, das schon für die Landesregierung des einzigen grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann gearbeitet hat, übersetzt eine Vielzahl von Wünschen, Alltagserfahrungen und Idealen ganz normaler Leute in Handlungsaufträge für die Grünen.
Die ungewöhnliche Aufstellung des Landtagswahlprogramms ist die vielleicht entscheidende Aufwärmübung für das „Projekt Volkspartei“ der NRW-Grünen. Die beiden Landesvorsitzenden Mona Neubaur und Felix Banaszak haben konsequent die Lehren aus dem Landtagswahldebakel 2017 gezogen. Damals wurden sie für eine ideologische Schulpolitik, überbordende Umweltbürokratie und eine besserwisserische Verbotshaltung fast aus dem Landtag gewählt. Am Ende standen kümmerliche 6,4 Prozent und die Erkenntnis, dass man sich vielleicht doch an grünen Erfolgsmodellen wie in Baden-Württemberg orientieren sollte.
Nach der Kommunalwahl zeigen sich Wachstumsschmerzen
Seither ist viel passiert. Die NRW-Grünen haben ihre Mitgliederzahl verdoppelt. Keine Partei wirkt zurzeit so lebendig wie sie. Die Grünen haben bei der Europawahl und den Kommunalwahlen fulminante Erfolge eingefahren, stellen erstmals Oberbürgermeister im Land und sind in Umfragen auf Schlagdistanz zur taumelnden CDU von Ministerpräsident Armin Laschet. Ein Jahr vor der nächsten Landtagswahl ist plötzlich etwas vorstellbar geworden: dass die Grünen in der Düsseldorfer Staatskanzlei einziehen.
„Wir wollen eine Partei sein, die sich nicht mehr selbst genug ist“, sagt Neubaur. Das heißt: Über das angestammte Milieu hinausdenken. Ihr Co-Vorsitzender Banaszak hat sich einen Satz des At-Grünen Reinhard Bütikofer eingeprägt: „Kretschmann kapieren, nicht kopieren.“ Die Grünen in Baden-Württemberg konnten im tiefschwarzen Ländle zur Volkspartei aufsteigen, weil sie akzeptiert haben, dass Politik immer die Kunst des Kompromisses ist und Fortschritt allzu oft eine Schnecke. Wer Mehrheiten für Veränderung gewinnen will, darf nicht sektiererisch sein. Sprich: Wer Verbrennungsmotor fährt, im Einfamilienhaus wohnt, ab und an Steak isst, nach Mallorca fliegt und Gendersternchen albern findet, kann trotzdem die großen Ziele der Grünen teilen.
Das Potenzial der Grünen in NRW gleicht dem in Baden-Württemberg
Neubaur und Banaszak wissen, dass es gerade in einem traditionell eher linken Landesverband wie ihrem eine Sehnsucht nach „Grün pur“ gibt. Das wohlige Gefühl, im exklusiven Kreis der Rechthaber zu sein, wird bisweilen mehr geschätzt als der kleine Schritt in die richtige Richtung. Seit der Kommunalwahl sind in den stark gewachsenen Ratsfraktionen erste Friktionen zu beobachten. In der einen Stadt kommen Alt-Grünen nicht mit dem Elan der neuen Parteimitglieder klar. In der anderen sind Aktivisten aus Bürgerinitiativen frustriert, dass Politik eben Interessenausgleich bedeutet und das Papier mit „Fridays vor future“-Forderungen geduldig ist.
Das Potenzial der Grünen dürfte in NRW kaum kleiner sein als in Baden-Württemberg. Die hohe Dichte an Großstädten wie Köln, Düsseldorf, Essen, Münster, Bonn oder Bielefeld sowie der Niedergang der SPD in ihrem Stammland bieten eine vortreffliche Ausgangsbasis. Doch innerparteilicher Interessenausgleich will frühzeitig geübt sein, um zum „politischen Vollsortimenter“ aufzusteigen, wie es Neubaur nennt.