Bochum. Die bundesweit einzigartige Online-Schule in Bochum hat Zulauf. Hier werden Kinder unterrichtet, die keine reguläre Klasse besuchen können.
Es ist 11 Uhr. Tom sitzt in seinem Kinderzimmer und fährt den Rechner hoch. Deutsch steht heute für den 13-Jährigen auf dem Stundenplan. Hunderte Kilometer entfernt begrüßt ihn Lehrer Christian Wiensgol (34) via Skype am Bildschirm: „Hallo Tom, wie geht es dir heute?“ Der Junge lächelt in die Kamera und sagt etwas umständlich: „Heute geht es mir prächtig. Ich bin ein glücklicher Mensch.“ Eine normale Schulstunde an der Web-Individualschule in Bochum, wo es keine Klassenräume, keine festen Ferienzeiten und keinen Pausenhof gibt. Der Unterricht läuft ausschließlich online ab.
Glücklich war Tom lange Zeit nicht. Der Junge leidet am Asperger-Syndrom, eine Variante des Autismus. Er ist hochintelligent, mit dreieinhalb Jahren konnte er lesen. Mit fünf Jahren sollte er bereits die zweite Klasse besuchen, doch die Schulleitung lehnte das ab, erzählt der Junge freimütig. „Tom ist großartig und sehr besonders“, sagt Schulleiterin Sarah Lichtenberger (38). „Besonders“ sagt sie oft, wenn sie von ihren Schülern spricht. „Aber eine Regelschule kann den Jungen nicht bändigen.“
„Ich war immer ein Außenseiter“
Das sieht Tom selber so: „Ich habe mich immer gelangweilt. Ich wollte mich nicht mit Sachen beschäftigen, die ich schon konnte und wusste.“ Und dann hat er den Unterricht gestört, den Lehrer ständig korrigiert. „Nein, die Erde ist keine Kugel, sondern ellipsenförmig“, habe er verbessert. Ein schlauer Querkopf. „Ich war immer ein Außenseiter.“ Er wurde gemobbt, gehänselt und gedemütigt. Sieben Schulen hat er in seiner kurzen Schulkarriere durchlaufen. „Ich habe an dem deutschen Schulsystem nicht so meinen Gefallen gefunden“, resümiert er etwas altklug seine Erfahrungen.
Tom ist ein typischer Fall für die Web-Individualschule. Hier werden derzeit 180 Schüler aus ganz Deutschland unterrichtet, die dauerhaft krankgeschrieben oder aus anderen Gründen per Gutachten von der Schulpflicht befreit wurden. Viele haben Mobbingerfahrungen machen müssen, Gewalt oder Missbrauch, erzählt Lichtenberger. Eine hohe Zahl habe autistische Störungen, Kinder mit psychischen Problemen wie Depressionen, Phobien oder Angststörungen sind darunter.
Auch die Kaulitz-Brüder lernten hier
Einige leiden am chronischen Erschöpfungssyndrom und sind nur wenige Stunden am Tag aufnahmefähig. Andere kommen über die Jugendhilfe, sind aggressiv, gewalttätig und womöglich bereits straffällig geworden. „Die Hammerwerfer“, wie Lichtenberger sie nennt. Ein paar sind Sportler, Musiker oder Schauspieler, die durch die Welt reisen und online unterrichtet werden. Auch die Kaulitz-Brüder Tom und Bill („Tokio Hotel“) holten mit Hilfe der Internetschule ihren Realschulabschluss nach. „Wir sind ein Sammelbecken für Extremfälle“, lächelt Lichtenberger. Alle eint, dass eine Regelschule mit ihnen wohl überfordert wäre.
Die Schule erreichen viele Anfragen von Eltern
In letzter Zeit erlebt die Web-Schule einen wachsenden Zulauf. „Ich habe sehr viele Anfragen von Eltern, die ihr Kind bei uns anmelden wollen“, sagt Sarah Lichtenberger. Sie vermutet, dass bundesweit Hunderte Kinder unbeschult zu Hause sitzen, weil sie krank oder beeinträchtigt sind. Für die 38-jährige Pädagogin ist das ein „unerträglicher Zustand“, an dem sie mit ihrer Schule ein wenig ändern will.
Lichtenberger leitet seit 14 Jahren die Internetschule, die 2002 von ihrem Vater gegründet wurde. Es ist eine private Bildungseinrichtung und unterliegt daher nicht der Schulaufsicht. Die Webschule kann somit keine eigenen Abschlüsse anbieten, sondern nur darauf vorbereiten. Die 18 Lehrkräfte – Sozialarbeiter, Pädagogen, Psychologen – unterrichten jeweils maximal 15 Schüler.
Kosten von 830 Euro im Monat
Täglich werden die Themen besprochen und Lernmaterial verschickt, das von den Schülern bearbeitet zurückgesendet wird. Jeder Schüler hat einen Lehrer, der alle Fächer unterrichtet – außer Chemie, Physik und Religion. Sport geht online ohnehin nicht. „Unser Ziel ist die Reintegration in eine Regelschule“, sagt Lehrer Christian Wiensgol, der seit acht Jahren in Bochum Unterricht gibt. Das schafften aber nur wenige.
Trotz der Kosten von 830 Euro im Monat ist die Warteliste lang. In der Mehrzahl der Fälle bezahlt das Jugendamt die Summe. Das Geschäftsmodell scheint erfolgreich zu sein, denn vor kurzem bezog die Schule einen modernen, hellen Neubau in Sichtweite der Bochumer Jahrhunderthalle.
Tom ist für heute fertig. Als Hausaufgabe soll er einen Lebenslauf und ein Bewerbungsanschreiben verfassen. Deutsch mache ihm am meisten Spaß. In seiner typischen Wortwahl sagt er: „Es ist schön, die verschiedenen Facetten und Stile der deutschen Sprache kennenzulernen.“
>>>>> Schule hat keine staatliche Anerkennung
2002 wurde die Schule mit zwei Mitarbeitern und acht Schülern gegründet. Heute werden 180 Jungen und Mädchen unterrichtet. Die Schule ist ein Unternehmen in privater Trägerschaft und ohne staatliche Anerkennung. Daher kann hier die Schulpflicht nicht erfüllt werden. Die Schule bereitet auf einen staatlich anerkannten Förder-, Haupt- und Realschulabschluss an einer Partnerschule vor. Bisher haben 420 Schüler einen Abschluss erreicht. Die Einrichtung ist von der staatlichen Zentralstelle für Fernunterricht zertifiziert.