Berlin.. Von den Wählern ins Berliner Parlament katapultiert, müssen die Internet-Experten Politik erst noch mühsam lernen. Vor einem Erfolg müssen viele Peinlichkeiten durchgestanden werden. Bisher fielen die Piraten-Abgeordneten im Berliner Parlament eher durch auffällige Kleidung als durch Sachkenntnis auf.
Im Berliner Parlament wird es schlüpfrig. Denn nach dem x-ten Zwischenruf greift Christopher Lauer erregt ins verbale Unterstübchen. „Sie werden mich gleich wieder irgendwie anpimmeln“, faucht der Abgeordnete der Piraten den SPD-Kollegen Sven Kohlmeier an. Der Streit geht um Schnüffelsoftware auf Schulcomputern. „Ich bitte, Herr Kollege, beim nächsten Mal auf gewisse unparlamentarische Ausdrücke wie ‘anpimmeln’ zu verzichten“, rüffelt Vizepräsidentin Anja Schillhaneck den Jungpolitiker.
Begriffe aus der Lendenregion sind also tabu. Es gibt so viele Dinge, die die Berliner Piraten lernen müssen. Im September haben die Wähler die Internet-Experten ins Hauptstadtparlament katapultiert. Bevor sie die etablierten Parteien das Fürchten lehren, haben sie aber alle Hände voll zu tun, um im stürmischen Politikbetrieb nicht abzusaufen.
Fraktionssitzung, vergangene Woche. Die Piraten – 14 Männer, eine Frau – sitzen im Kreis. Alle haben Laptops hochgefahren. Fraktionschef Andreas Baum erscheint in Trainingsjacke, Lauer trägt ein Sakko, Gerwald Claus-Brunner schwört auf Blaumann und Kopftuch.
Willkommen im Politikalltag
Im Wahlkampf forderten die Piraten Internet für alle, mehr Bürgerbeteiligung, Transparenz in der Verwaltung und Gratis-ÖPNV. Nun müssen sie sich mit dem „Ersten Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung der Stiftung Gedenkstätte Hohenschönhausen“ herumplagen. Willkommen im Politikalltag.
Es gibt ein Pro und Kontra, ohne ideologisches Tamtam. Dann das Votum. Jeder Pirat hebt eines von zwei „Abstimmungs-Kenntlichmachungs-Tools“ hoch. Was ungemein innovativ klingt, sieht aus wie ein Tennisball auf einem Schaschlikspieß. Auf einem steht Ja, auf einem Nein.
Was kompliziert klingt, klappt auch nicht
„Wer möchte dazu reden?“, fragt Baum mit Blick auf die nächste Parlamentssitzung. Schweigen. Nun ja, die Piraten wissen noch nicht, wer künftig welches Thema beackert. Grüne und gelbe Karten, auf denen Themen stehen, sollen auf einer Pinnwand bei der Entscheidung helfen. Was kompliziert klingt, klappt auch nicht. Entnervt verschieben die Piraten den Ressortzuschnitt. Zunächst einmal büffeln sie das politische ABC. Wie geht die spontane Fragerunde? „Es gibt einen Gong, dann muss man schnell drücken“, sagt Baum. Martin Delius hat sich ins Kleinklein einer mündlichen Anfrage eingearbeitet. Sie komme von einer Person, doziert er die Formalien: Datum, von wem, von welcher Fraktion, zu welcher Sitzung, zu welchem Thema, zu welchem Senat, ein bis drei Fragen. Nicken!
Die Erfolge der Piraten würden heute noch auf einen Bierdeckel passen. Immerhin ist die Kantine im Parlament nun reichhaltiger. Außerdem hat die Fraktion Bildungssenator Jürgen Zöllner mit einer Großen Anfrage zur „Überwachungssoftware“ auf den Schulcomputern gepiesackt. Die Debatte im Plenarsaal dazu ist eher für Feinschmecker, doch der Unterhaltungswert stimmt im Aufeinanderprallen der Generationen. Links sitzen 14 Piraten. Wieder flimmern Laptops. Für Augenkrebsgefahr sorgt Claus-Brunner – mit orangener Latzhose. Am Rednerpult zieht Lauer Zöllner mit bissiger Ironie durch den Kakao. Der Senator, dunkler Anzug, schwarze Fliege, weiße Haare, wirkt dagegen wie ein Dinosaurier.
Peinliches Unwissen
Für die Piraten-Pannen bräuchte es dagegen schon jetzt mehrere Bierdeckel. Erst blamierte sich Baum im Wahlkampf, als er Berlin „viele, viele Millionen“ Euro Schulden zuschrieb. Tatsächlich steht die bettelarme Hauptstadt mit mehr als 60 Milliarden in der Kreide. „Da hätte ich mich gerne in ein Loch im Erdboden versenkt,“ sagt Baum. Vetternwirtschaft-Verdacht erregte die einzige Piratin der Fraktion, Susanne Graf. Sie hatte kurzerhand ihren Liebsten bei sich eingestellt. Nun ist der Vertrag gelöst.
Jüngst sorgten Lauer und dessen Kollege Simon Weiß mit Fotos für Wirbel. Sie sind darauf zu sehen, wie sie sich mit einem Papierröllchen in der Nase über einen Tisch mit weißem Pulver beugen. Angeblich Salz. Gedacht als Satire, um für eine pragmatische Drogenpolitik zu werben. Erwartungsgemäß heulten die Vertreter der etablierten Parteien auf. „Ich finde das Bild gelinde gesagt großartig“, kontert der Abgeordnete Fabio Reinhardt. Mit kontroversen Themen so umzugehen, zeuge doch von der Kreativität der Piraten.
Weniger provokativ sind deren Pläne für die nächste Plenarsitzung. Sie beantragen eine aktuelle Stunde zur Zukunft der S-Bahn. Vielleicht sogar ohne „unparlamentarische Begriffe“.