Berlin/Kairo. Deutschland erreichen immer mehr Flüchtlinge aus Marokko und Algerien. Sie sehen bessere Chancen, wenn sie sich unter Syrer mischen.

Der Trick ist, halbwegs glaubhaft als Syrer durchzugehen. Die Aussprache kann man üben, die Nationalhymne auswendig lernen. Genau das machten junge Leute in den Armenvierteln in Casablanca, berichtet die marokkanische Website „Hibapress“. Es ist der erste Schritt auf einem langen Weg nach Europa. Früher führte der über die libysche Küste und weiter mit dem Schlauchboot. In letzter Zeit fliegen junge Marokkaner vor allem in die Türkei, für die sie kein Visum brauchen, und ziehen via Balkanroute weiter nach Deutschland. „Viele Marokkaner mischen sich in der Türkei unter die syrischen Migranten. Sie glauben, so ihre Chancen zu verbessern, in Deutschland als Flüchtling anerkannt zu werden“, sagt Adil Karmouti, Chefredakteur von „Hibapress“.

Das Reisekalkül geht offenbar auf. In den vergangenen Wochen ist die Zahl der Asylbewerber aus Algerien und aus Marokko sprunghaft gestiegen. Wie das Bundesinnenministerium meldete, sind allein im Dezember 2296 Asylsuchende aus Algerien und 2896 aus Marokko gekommen. Im Juli 2015 waren es 647 Algerier und 329 Marokkaner. Da sind die (unerkannten) falschen Syrer noch nicht einmal berücksichtigt. Im gesamten Jahr reisten 10.258 Marokkaner und 13.883 Algerier ein. Aus Tunesien kamen nur 1945 Menschen, gleichmäßig verteilt über das Jahr.

Dass auf der anderen Seite des Mittelmeers das bessere Leben wartet, das war schon immer die Hoffnung. Traditionell sind die Bewohner der Maghreb-Staaten aber vorzugsweise nach Spanien, Frankreich und Italien ausgewandert. Erst als Hunderttausende Syrer in Deutschland Zuflucht fanden, orientierten sie sich neu. „Viele Marokkaner denken: Kanzlerin Angela Merkel hat die Tore geöffnet, und Flüchtlinge seien in Deutschland willkommen“, sagt „Hibapress“-Chefredakteur Karmouti.

Nordafrikaner häufiger straffällig als Syrer

Es sind keine gewaltigen Zahlen. Es ist der Trend, der umgehend auffiel und die Politik zusätzlich alarmierte, als die erste Analyse der Übergriffe zu Silvester in Köln zeigte, dass 19 der 24 Verdächtigten aus Nordafrika kamen. Und das ist kein Zufall. Während von 1111 illegal eingewanderten Syrern in jüngster Zeit 0,5 Prozent als Verdächtige bei Straftaten auffielen, waren es bei 838 illegalen Einwanderern aus Marokko, Tunesien und Algerien 40 Prozent. Die überwiegend allein reisenden jungen Männer seien besonders häufig bei Raub, Ladendiebstahl, Taschendiebstahl und Diebstahl vertreten.

Im Bundestag mahnen Innenpolitiker schnellere Verfahren und vor allem zügige Abschiebungen an. „Ein unglaublich zähes Geschäft“, erzählt Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger (SPD). Im Schnitt ziehen sich die Verfahren 15 Monate lang hin. „Das ist nicht hinnehmbar“, schimpft der SPD-Abgeordnete Burkhard Lischka.

Zwei Lösungen bieten sich an. Die Bundesregierung könnte Algerien, Marokko und Tunesien zu sicheren Herkunftsstaaten erklären. Das erleichtert dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Anträge von Menschen aus diesen Ländern abzulehnen. Genau so ist die Regierung – mit Erfolg – schon gegen die Armutsflüchtlinge aus der Balkanregion vorgegangen.

Abschiebung ist ein schwieriges Thema

Der Nachteil ist, dass dafür Gesetze geändert werden müssten. Das kostet Zeit, vermutlich Monate, weil politisch viel zu tun wäre, um die einzelnen Abgeordneten zu überzeugen. Der Bundesrat müsste zustimmen. Die Grünen, die in vielen Ländern regieren, schrecken vor schärferen Gesetzen zurück. Ein rechtliches Restrisiko käme hinzu. Die Anerkennungsquote liegt bei Marokkanern mit 3,7 Prozent und bei Algeriern mit 1,7 Prozent höher als bei den Balkanstaaten, wo sie 0,1, bis 0,2 Prozent betrug. Eine Gesetzesverschärfung könnte vor dem Verfassungsgericht scheitern.

Einen schnelleren Erfolg erhofft sich Innenminister Thomas de Maizière (CDU) auf anderem Weg. Er prüft nach Informationen unserer Redaktion, das BAMF anzuweisen, die Anträge aus den drei afrikanischen Staaten vorrangig zu bearbeiten. SPD-Mann Lischka wünscht sich, dass über die Anträge „innerhalb weniger Wochen“ entschieden wird. Die bisherige Dauer der Verfahren ist für die Praktiker in den Ländern der Hebel schlechthin. Für Jäger ist sie an sich „ein Anreiz, nach Deutschland zu kommen, um Straftaten zu begehen, da man sich hier ein bis zwei Jahre aufhalten kann“.

Wer nicht gefasst wird, macht weiter. Wer gefasst wird, wird halt früher abgeschoben. Das ist alles. Ein kalkulierbares Risiko. Hat man die Verfahren verkürzt, muss am nächsten „dicken Brett“ (Auswärtiges Amt) gebohrt werden: die Abschiebung. Ländersache. Kanzlerin Angela Merkel hat zwei Wahrheiten parat, eine sachliche und eine taktische, je nachdem, welchen Hut sie gerade aufhat. Als CDU-Chefin ermahnt sie die Länder, schneller abzuschieben. Der Fingerzeig gilt rot-grün regierten Ländern. Als Vorbild gilt das CSU-geführte Bayern.

Kaum Abschiebungen nach Marokko und Algerien

Die regierungsamtliche Sicht der Dinge klingt differenzierter. Merkels Sprecher Steffen Seibert erläutert das Dilemma am Beispiel Algeriens. Ein Rückführungsabkommen besteht seit 2006. „Auf dem Papier“ sei alles geregelt, die Praxis aber durchaus problematisch. So werfen die Innenminister der Bundesländer nordafrikanischen Staaten „unkooperatives Verhalten“ bei Abschiebungen vor. Rund 5500 Algerier, Marokkaner und Tunesier seien nach einem internen Papier der Innenbehörden Ende Juli vergangenen Jahres ausreisepflichtig gewesen, berichtet der „Spiegel“. Lediglich 53 konnten im ersten Halbjahr 2015 in ihre Heimatländer abgeschoben werden.

Asylbewerber verschweigen ihre Herkunft, vernichten ihre Ausweise, und die nordafrikanischen Staaten stellen keine Ersatzpapiere aus und nehmen die Flüchtlinge nicht zurück. De Mai­zière und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hatten im Dezember ihre Kollegen in Marokko und Algerien angeschrieben. Sie mahnten eine „verstärkte Kooperation“ an und brachten ein EU-„Laissez-Passer“-Dokument ins Gespräch – eine Art Passierschein. De Maizières Geduld ist allmählich erschöpft. Am liebsten würde er die Entwicklungshilfe als Druckmittel einsetzen. Wer nicht kooperativ ist, kriegt keine Unterstützung. Bisher wurde er im Kabinett ausgebremst.

Die Kommunen und Länder erinnern Steinmeier daran, dass ihnen eine Koordinierungsstelle versprochen worden war. Wenn sie einzeln bei den Botschaften vorstellig werden, kommen sie oft genug nicht weiter. Aber über eine Koordinierungsstelle des Auswärtigen Amts wären die Erfolgschancen größer, hoffen sie.

Schwieriger Kampf gegen Fluchtursachen

Es sind allesamt Versuche, den Zustrom zu ordnen. Ungleich schwerer ist es, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Algerien ist da ein Lehrbeispiel, weil es der reichste Maghreb-Staat ist, aber schlecht regiert wird. „Wir sind ein reiches Land mit einer armen Bevölkerung“, sagen die Leute. Ein Viertel der Bürger lebt in Not, elf Prozent sind arbeitslos, bei den Jüngeren sogar 25 Prozent. Knapp 70 Prozent der 39 Millionen Algerier sind jünger als 30 Jahre. Jeder dritte von ihnen will weg.

So wie die zwei Dutzend jungen Menschen, die soeben erst von der algerischen Küstenwache in der Bucht vor Annaba in ihrem Schlauchboot aufgebracht wurden. „Die Bilanz meines Lebens ist absolut negativ. Ich bin ohne Arbeit und ohne Wohnung. In Algerien sind sogar Ärzte und Ingenieure arbeitslos“, erzählt einer. Dreimal habe er die Überfahrt probiert. Jedes Mal erwischte ihn die Küstenwache. „Aber ich werde mein Glück erneut versuchen.“

Anders als im ölreichen Algerien zieht es junge Marokkaner und Tunesier auch zur Terrormiliz „Islamischer Staat“. Auffallend viele stammen aus Mittelklassefamilien, hatten gut bezahlte Berufe im Privatsektor. „Die Armen wollen nach Europa, die besser Gestellten gehen nach Syrien – das ist besonders beunruhigend“, erläutert Mohammed Iqbal Ben Rejeb, Gründer von Ratta, einer Organisation, die tunesischen Familien hilft, ihre Söhne aus Syrien und dem Irak zurückzuholen.