Berlin. Außenminister Frank-Walter Steinmeier fordert im Exklusiv-Interview mit dieser Zeitung Europa zur Solidarität in der Flüchtlingskrise auf - und zeigt sich “überwältigt“ von der Hilfsbereitschaft der Deutschen.
Ukraine-Krise, Syrien-Krise, Flüchtlingsdramen an den Grenzen der EU und auf dem Mittelmeer. Die Welt gerät aus den Fugen und das Außenministerium unter Frank-Walter Steinmeier (SPD) wird zur Krisenbewältigungszentrale der Bundesregierung.
Deutschland ist zum Traumziel für Flüchtlinge geworden. Erfüllt Sie das mit Stolz oder mit Sorge?
Frank-Walter Steinmeier: Ich bin überwältigt von der großen Hilfsbereitschaft in unserem Land. Wir dürfen uns glücklich schätzen, in dieser Zeit größter Herausforderungen auf so viel Unterstützung bei so unendlich vielen Menschen in Deutschland zu treffen. Darauf können wir stolz sein. Aber die Fragen an die Politik werden kommen – auch von denen, die jetzt helfen: Sind wir die einzigen, die Verantwortung zeigen? Schaffen wir die nötige Integration?
Wie viele Asylbewerber verkraftet Deutschland?
Steinmeier: Das ist nicht nur eine Frage der absoluten Zahl, sondern hängt auch von der Unterstützung des Bundes für Länder und Kommunen ab. Die Frage ist, wie schnell wir in der Lage sind, jenen, die zu uns kommen, Deutsch beizubringen und sie in Lohn und Arbeit zu bringen. Klar ist: Allein schafft das kein Land, auch Deutschland nicht. Wir brauchen europäische Solidarität und mehr Engagement in und für die Herkunfts- und Transitländer.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bekennt: „Die Europäische Union ist in keinem guten Zustand.“ UN-Generalsekretär Ban Ki Moon spricht von einer „Krise der Solidarität“. Teilen Sie das?
Steinmeier: Klar ist: Europa kann nur dann funktionieren, wenn alle Mitgliedstaaten Verantwortung zeigen und bereit sind, ihren Teil der Lasten zu tragen. Dieses Prinzip kann nicht nur gelten, wenn es ums Geld geht. Leider stellen einzelne Länder dieses Grundverständnis über europäische Solidarität in Frage. Es ist gut, dass die Europäische Kommission jetzt einen Vorschlag für eine europaweite Verteilung von Flüchtlingen vorgelegt hat. Ich hoffe, dass es uns jetzt gelingt, zu einer fairen Lastenverteilung zu kommen.
Nach welchen Kriterien?
Steinmeier: Nach meiner Überzeugung brauchen wir eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge nach Quoten. Die Kommission hat dazu verschiedene Kriterien aufgestellt, die im Einzelnen noch besprochen werden müssen. Dazu gehören die Bevölkerungszahl, die Wirtschafts- und Finanzkraft, die Arbeitslosenquote und die Zahl der Asylgesuche.
Was bedeutet Ihre Warnung, das Mittelmeer dürfe nicht zum Massengrab werden, für den Kampf gegen Schleuser?
Steinmeier: Zu einer umfassenden Antwort auf die Flüchtlingskrise gehört es, die Rettung auf See zu verstärken und gleichzeitig das Geschäftsmodell skrupelloser Schleuser zu zerstören. Die EU muss auf dem Mittelmeer nicht nur in der Lage sein, aufzuklären, wo sich Schleuserboote bewegen, sondern diese auch anhalten und Schleuser dingfest machen können. Das wird dann auch einen gehörigen Abschreckungseffekt haben. Ich verspreche mir auf Dauer aber größere Wirkung von der polizeilichen Zusammenarbeit der europäischen Staaten mit den wichtigen Transit- und Herkunftsstaaten. Inzwischen erkennt man überall, dass Schleuserkriminalität – neben Drogen-, Waffen- und Menschenhandel – nur ein ganz besonders lukrativer Geschäftszweig von organisierter Kriminalität ist, der auch für die Transit- und Herkunftsstaaten immer gefährlicher wird.
Das Bild des toten syrischen Jungen hat viele Menschen bewegt. Hat es auch die Politik verändert?
Steinmeier: Ich kenne keinen, den das Foto von dem toten Jungen unberührt gelassen hätte. Ich habe Flüchtlingslager im Libanon und Jordanien besucht und kenne die Geschichten derjenigen, die mit knapper Not überlebt haben. Viele haben auf der Flucht durch Kriegsgebiete die halbe Familie verloren. Ihre Frauen und Töchter sind zu Tode gekommen, wurden vergewaltigt oder auf Sklavenmärkten verkauft. Das Foto dieses Jungen bringt die ganze Tragödie der Flucht aus Syrien für die europäische Öffentlichkeit auf den Punkt. Dass jetzt noch mehr Länder bereit sind, zu helfen, hat, denke ich, auch mit der Eindringlichkeit solcher Bilder zu tun.
Aus Syrien kommt die Nachricht, Russland verlege Soldaten und militärisches Gerät in das Bürgerkriegsland. Wissen Sie, was Putin vorhat?
Steinmeier: Die Nachrichten über eine Verstärkung des militärischen Engagements in Syrien, allen voran von russischer Seite, verfolge ich mit großer Sorge. Ich habe meinen Amtskollegen Sergej Lawrow in Moskau angerufen und um Informationen gebeten. Er sagt, Russland sei wie der Westen besorgt über die wachsende Stärke der Terrormiliz IS und werde deshalb diejenigen unterstützen, die gegen ISIS kämpfen. Dazu gehöre auch die syrische Armee. Ich hoffe, dass Russland mögliche Risiken mitkalkuliert. Ich bleibe bei meiner Überzeugung: Nach dem erfolgreichen Abschluss der Atomverhandlungen mit dem Iran gibt es ein kleines Fenster der Gelegenheit, in dem wir die unterschiedlichen Akteure der Region – die Nachbarstaaten Syriens einschließlich der Länder des Arabischen Golfs – mit Russen, Amerikanern und Europäern zusammenbringen können, um einen Lösungsversuch zu beginnen. Fast fünf Jahre Bürgerkrieg, mehr als eine Viertelmillion Tote, zwölf Millionen Flüchtlinge: Das ist nicht nur eine politische, sondern auch eine moralische Verpflichtung für uns, diese Chance zu ergreifen, auch wenn es keine Erfolgsgarantie gibt.
Besteht die Gefahr, dass Russland Fakten schafft wie in der Ukraine?
Steinmeier: Ich hoffe nicht, dass Russland auf eine Fortsetzung des Bürgerkriegs in Syrien setzt. Moskau muss ein Interesse daran haben, das Erstarken von ISIS und anderer islamistischer Gruppierungen zu verhindern. Es darf jetzt nicht eine Lage entstehen, die ein gemeinsames Handeln der internationalen Staatengemeinschaft unmöglich macht. Es darf nicht mehr sein, dass jeder auf eigene Faust in Syrien herumfuhrwerkt. Nur gemeinsames Handeln kann jetzt noch eine Wende bringen.
Auf welche Weise ist Deutschland gefordert?
Steinmeier: Wir überschätzen uns nicht, aber wir verweigern uns auch nicht, wenn wir gefragt werden. Das ist Teil der Verantwortung, wie ich sie für ein Land von der Größenordnung und Stabilität Deutschlands beschreibe. Der UN-Sondergesandte Staffan de Mistura hat Vorschläge gemacht für den Einstieg in einen politischen Übergangsprozess in Syrien. Er plant Gespräche in vier Arbeitsgruppen, unterstützt von einer internationalen Kontaktgruppe aus den wichtigsten internationalen und regionalen Akteuren, auch dem Iran. Wir unterstützen de Mistura bei dieser Aufgabe, politisch bei unseren Gesprächen in der Region, aber auch mit Geld und Expertise.
In Ihrer Partei keimt der Wunsch, dass Sie für das Amt des Bundespräsidenten kandidieren...
Steinmeier: Ich weiß nicht, wer diese Debatte befördert. Ich sehe dafür weder Anlass noch Grund. Wir haben einen hervorragenden Bundespräsidenten. Ich wünsche mir eine zweite Amtszeit von Joachim Gauck.