Istanbul. Bomben töten in Ankara Dutzende Menschen. Die oppositionelle HDP sieht sich als Ziel. Sie glaubt den Beteuerungen des Präsidenten Erdogan nicht, die Bluttat aufzuklären.
Bomben auf einer Friedensdemonstration: Bei einem Terroranschlag in der türkischen Hauptstadt Ankara sind mindestens 86 Menschen getötet worden. Die pro-kurdische Oppositionspartei HDP war nach eigener Einschätzung Ziel des Anschlags vom Samstag und macht der Regierung schwere Vorwürfe.
Bei dem Doppelanschlag auf eine regierungskritische Friedensdemonstration wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums mindestens 186 Menschen verletzt. Zu der Bluttat kam es drei Wochen vor Neuwahlen für das Parlament. Es ist der schwerste Terroranschlag in der jüngeren Geschichte des Landes. In ersten Reaktionen aus dem Ausland wurde der Anschlag auch als Angriff auf Demokratie und Meinungsfreiheit in der Türkei verurteilt: Sollte sich bestätigen, dass es sich wie vermutet um die Taten von Terroristen handele, "dann handelt es sich um besonders feige Akte, die unmittelbar gegen Bürgerrechte, Demokratie und Frieden gerichtet sind", schrieb Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu.
Erdogan verurteilt Anschlag
Die US-Regierung bekräftigte angesichts des Anschlags ihre Entschlossenheit im Kampf gegen den Terrorismus. "Derartige entsetzliche Gewalttaten werden uns ganz gewiss nicht abschrecken, sondern uns nur in unserer Entschlossenheit bestärken", erklärte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates, Ned Price. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg betonte: "Alle Bündnispartner stehen Seite an Seite im Kampf gegen die Geißel des Terrorismus."
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Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan erklärte: "Ich verurteile diesen abscheulichen Angriff zutiefst, dessen Ziel die Einheit, Solidarität und der Frieden unseres Landes gewesen ist." Erdogan versprach eine Aufklärung des Anschlags, zu dem sich zunächst niemand bekannt hatte. Laut Innenministerium ereigneten sich die beiden Explosionen um 10.04 Uhr (Ortszeit/09.04 MESZ) vor dem Hauptbahnhof in Ankara. Die HDP und andere regierungskritische Gruppen hatten Demonstrationsteilnehmer dazu aufgerufen, sich ab 10.00 Uhr am Bahnhof zu versammeln. Die Demonstration sollte um 12.00 Uhr beginnen.
Polizei setze angeblich Tränengas gegen Helfer ein
Auf Bildern waren Leichen zu sehen, die mit Flaggen und Bannern unter anderem der HDP bedeckt waren. Ein Video zeigt, wie junge Demonstranten tanzen, als hinter ihnen eine der Bomben detoniert. Augenzeugen hätten von zwei Selbstmordattentätern gesprochen, die Polizei sei nicht vor Ort gewesen. Als Polizisten nach 15 Minuten eingetroffen seien, hätten sie Tränengas gegen Menschen eingesetzt, die Verletzten helfen wollten. Für den Abend wurde über Twitter zu Demonstrationen in mehreren türkischen Städten aufgerufen.
Der Ko-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, machte die islamisch-konservative Staatsführung für die Tat verantwortlich. "Das ist kein Angriff auf die Einheit unseres Landes oder dergleichen, sondern ein Angriff des Staates auf das Volk", sagte er. "Ihr seid Mörder. An Euren Händen klebt Blut." Auch dieser Vorfall werde nicht aufgeklärt werden. Demirtas kritisierte, die AKP-Regierung habe weder den Anschlag auf pro-kurdische Aktivisten im Juli im südtürkischen Suruc noch den auf eine HDP-Wahlveranstaltung im Juni in der Kurdenmetropole Diyarbakir aufgeklärt.
Kurden-Partei steht Erdogans Präsidialsystem im Weg
Den Anschlag in Suruc mit 34 Toten hatte die Regierung der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zugeschrieben, die sich aber nie zu der Tat bekannte. Kurz nach dem Anschlag eskalierte der Konflikt zwischen der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK und der Regierung, der seit Juli Hunderte Menschen das Leben kostete.
Die HDP war im Juni als erste pro-kurdische Partei ins türkische Parlament eingezogen. Nach gescheiterten Koalitionsverhandlungen rief Erdogan für den 1. November Neuwahlen aus. Erdogan braucht eine ausreichende AKP-Mehrheit für ein Verfassungsreferendum, um ein Präsidialsystem mit sich selber an der Spitze einführen zu können. Mitte November ist in der Nähe der südtürkischen Stadt Antalya der G20-Gipfel geplant, an dem auch Merkel teilnehmen soll.
Die Täter wollten offensichtlich vor den Wahlen ein Klima der Angst schüren, sagte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). "Dieser brutale Terroranschlag auf friedliche Demonstranten ist zugleich auch ein Angriff auf den demokratischen Prozess in der Türkei." Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) kritisierte im Zusammenhang mit dem Anschlag die EU-Flüchtlingspolitik: "Es kennzeichnet den ganzen Zynismus der europäischen Flüchtlingsabwehrpolitik, wenn diese Türkei zum sicheren Herkunftsland definiert werden soll."
Erdogan und andere Politiker bei Krisentreffen
Auch der russische Präsident Wladimir Putin sprach Erdogan sein Beileid aus. Im Kampf gegen den Terror müsse man alle regionalen und überregionalen Anstrengungen vereinen, erklärte das russische Außenministerium in Moskau. Vorübergehende Einzelinteressen müssten außen vor bleiben. Die Türkei hat Russland wegen der Luftangriffe in Syrien scharf kritisiert.
Die Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, Erdogan sei nach dem Anschlag mit Ministerpräsident Davutoglu und anderen Kabinettsmitgliedern zu einem Krisentreffen zusammengekommen. Davutoglu setzte den Wahlkampf für drei Tage aus.
Die PKK kündigte am Samstag an, Angriffe auf den Staat vor der Wahl unter Vorbehalt auszusetzen. Bedingung sei, "dass keine Angriffe gegen die kurdische Bewegung, das Volk und Guerillakräfte ausgeführt werden", hieß es in Erklärung der PKK-Führung, die offenbar vor dem Anschlag verfasst wurde. Von einer Waffenruhe spricht die PKK nicht. Vize-Ministerpräsident Yalcin Akdogan hatte am Freitag gesagt, auch im Falle einer einseitigen Waffenruhe der PKK würden die Sicherheitskräfte weiter gegen die Bewegung vorgehen. (dpa)