Berlin. Eigentlich kommt der SPD-Parteitag in Leipzig zur Unzeit: Der Koalitionsvertrag ist noch nicht fertig, die Mitgliederbefragung dazu steht noch aus. Dennoch ist das Treffen der Genossen ein wichtiger Termin für den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel. Er will in Leipzig richtig durchstarten, Richtung Vize-Kanzlerschaft.
So einen Parteitag gab es in der SPD noch nie: Der Konvent, der am Donnerstag in Leipzig beginnt, liegt derart ungünstig zwischen Wahldebakel und Regierungsbildung, dass alle wichtigen Fragen gar nicht geklärt werden können.
Die Debatte über die Ursachen der bitteren Wahlniederlage wird nur angerissen, die Parteispitze darf jetzt nicht beschädigt werden. Über die Koalition wiederum können die Delegierten noch nicht entscheiden, der Vertrag soll per Mitgliedervotum Mitte Dezember abgesegnet werden. Verschieben aber ließ sich der Konvent wegen der fälligen Vorstandswahlen auch nicht.
So tagt die angeschlagene SPD „im Niemandsland“, wie es ein Spitzengenosse beschreibt. Im unwegsamen Gelände schlägt die große Stunde des Parteichefs Sigmar Gabriel. Er hält am Donnerstag die einzige große Rede, um die SPD auf neue Zeiten einzuschwören, er will sich gleich danach für eine dritte Amtszeit wählen lassen. In der Partei gilt als sicher, dass Gabriel trotz der Wahlniederlage vom 22. September ein gutes Ergebnis einfährt und seine Führungsposition noch ausbaut.
Der Vertrauensbeweis wäre für Gabriel Teil seines Meisterstücks
Der Vertrauensbeweis wäre Teil seines Meisterstücks, die SPD behutsam, aber zielstrebig in die Große Koalition zu führen - und dann als Vizekanzler, auf Augenhöhe mit Angela Merkel, zum wirklich mächtigsten Mann der SPD zu werden.
Was für ein Triumph: Kurz vor der Wahl hatten Führungsmitglieder noch über einen Sturz Gabriels nachgedacht; Kritiker lasteten ihm die internen Querelen, den misslungenen Wahlkampf und allerlei Alleingänge an. „So kann es nicht weitergehen“, eröffneten ihm seine Stellvertreter Hannelore Kraft und Olaf Scholz am Wahlabend in der Parteizentrale.
Doch die Koalitionsgespräche verhinderten eine Personaldebatte, und Gabriel lief, den Abgrund vor Augen, zur Hochform auf. Fehlerlos habe er seit der Wahl agiert, sehr klug die Mitglieder mit ihren verbreiteten Vorbehalten gegen eine Große Koalition eingebunden, loben Exponenten des rechten wie des linken Parteiflügels.
Bündnis mit der Linkspartei nicht mehr ausgeschlossen
Zur souveränen Führung gehört auch ein geschicktes Doppelspiel. Um der SPD die Furcht vor der Koalition zu nehmen, sollen die Delegierten auf Wunsch der Parteispitze eine symbolische Öffnung zur Linkspartei beschließen: Koalitionen mit der Linken und damit Rot-Rot-Grün sind für die Zukunft nicht mehr ausgeschlossen. Gabriel wird die SPD als „linke Volks- und Reformpartei“ scharf zur Union abgrenzen, die jüngsten Querelen in den Koalitionsverhandlungen kommen ihm da sehr zupass.
Zugleich aber kann der Vorsitzende eine ansehnliche Zwischenbilanz der Koalitionsverhandlungen ziehen: Mietpreisbremse, doppelte Staatsbürgerschaft, Ausnahmen von der Rente mit 67, Mindestlohn, Solidarrente, Frauenquote, Entgeltgleichheit, Reparaturen an der Agenda 2010 etwa bei der Leiharbeit, „die wir längst hätten machen müssen.“
Was davon noch nicht beschlossen ist, kann Gabriel umso energischer fordern - denn unter sechs Augen hat er mit den Parteichefs Angela Merkel und Horst Seehofer all diese Punkte grundsätzlich längst geklärt. Nur dass der SPD-Vorsitzende dabei frühzeitig den Verzicht auf Steuererhöhungen akzeptiert hat, sorgt inzwischen auch bei führenden Genossen für Verärgerung.
Gabriel warnt: Es könne für die SPD bei Wahlen noch schlimmer kommen
Fürchten muss Gabriel das nicht. Er ist inzwischen ziemlich sicher, dass das Mitgliedervotum angesichts der Fülle von SPD-Positionen im Koalitionsvertrag positiv ausfällt. Er redet den Genossen aber auch schon scharf ins Gewissen: Wenn sich die SPD davor drücke, in der Regierung die Lebenswelt der Bürger zu verbessern, „dann sind 20 Prozent der Stimmen nicht die unterste Grenze.“ Es gehe um die „Zukunftsfähigkeit der SPD für die nächsten 20,30 Jahre“.
Nachdem Gabriel die SPD seit 2009 mit einem moderaten Linksruck zu neuer Geschlossenheit geführt hat, deutet jetzt einiges daraufhin, dass er die Partei in der Regierung wieder mehr in der Mitte positionieren will. Es gebe in der SPD ein „massives Defizit an ökonomischer Kompetenz“, hat er vor Berliner Genossen geklagt. Manche verstehen das als Hinweis, er wolle nicht das Sozialministerium übernehmen, sondern ein erweitertes Wirtschafts- und Energieministerium. Solche Fragen sind auf dem Parteitag aber tabu, damit nicht der Eindruck entsteht, der SPD-Spitze gehe es in der Koalition vor allem um Posten.