Essen. Die NSU-Morde haben sie wachgerüttelt: Deutsche Ermittler werden etliche längst zu den Akten gelegte Kriminalfälle noch einmal neu aufrollen. Sie wollen wissen, ob es Terroranschläge von Rechten waren. Auch 149 Fälle aus Nordrhein-Westfalen sind darunter.
Das Bundeskriminalamt (BKA) wird bis Mitte nächsten Jahres 149 Morde, versuchte Morde und Tötungsdelikte neu aufrollen, die es in Nordrhein-Westfalen seit 1990 gegeben hat und die bis heute nicht aufgeklärt werden konnten. Die Fälle werden überprüft, weil es bei ihnen den Verdacht gibt, dass die unbekannten Täter aus der rechtsextremistischen Szene stammen oder rechtsextremistische Motive gehabt haben könnten, bestätigte Frank Scheulen, der Sprecher des Landskriminalamtes, unserer Redaktion.
Die Untersuchung der ungeklärten Tötungsdelikte sind direkte Folge der Aufdeckung der NSU-Mordserie. Das Bundeskriminalamt hat die Akten von bundesweit 3300 Opfern von Mord, versuchtem Mord oder Totschlag durch einen Filter laufen lassen. Sie wurden auf einen Migrationshintergrund der Opfer, eine homosexuelle Neigung oder auch auf eine ehemalige und dann abgebrochene Zugehörigkeit zur rechten Szene, also auf einen „Verratsfall“ hin, überprüft – alles Eigenschaften, die ins „Beuteschema“ rechter Gewalttäter passen. Bei diesem Verfahren wurden am Ende von den 3300 unaufgeklärten Taten in 746 Fällen mit 849 Opfern „Anhaltspunkte für eine mögliche politische rechte Tatmotivation“ gefunden. In NRW eben 149 Mal.
Täter wurden gefasst, aber auch die Motive?
In anderen bundesweit 152 Fällen sind Täter zwar längst dingfest gemacht worden. Allerdings wurde hier das Tatmotiv nicht unmittelbar in rechter Gewalt gesehen. Kritiker aus der Berliner Amadeo-Antonio-Stiftung hatten diese Vorgänge schon 2011 dezidiert aufgelistet. Sie wurden von „Zeit“ und „Tagesspiegel“ veröffentlicht, waren Thema im Bundestag.
Ihre Schauplätze haben meist im Osten Deutschlands gelegen, mit einem Schwerpunkt in Brandenburg. Ein Dutzend dieser meist aufgeklärten Delikte, darunter zwei dreifache Morde, waren auch Sache der Polizei in Nordrhein-Westfalen:
Hörstel, Meerbusch, Velbert
Hörstel bei Ibbenbüren, April 1992. Es kommt zum Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim. Bis heute ist kein Täter ermittelt. Seit 1999 wird der Vorgang nicht mehr unter der Rubrik rechte Gewalt geführt.
Meerbusch bei Düsseldorf, 27. Dezember 1992. Der Türke Sahin C. wird auf der Autobahn A 57 von einem als rechtsextrem bekannten Hooligan aus Solingen verfolgt und gerammt. Sahin C. flüchtet aus dem Fahrzeug und wird von einem anderen Fahrzeug überfahren. Der Verfolger, Klaus E., wird zu 15 Monaten Haft verurteilt. Im Gefängnis schreibt er höhnisch: „Das mit dem Herumlaufen hat sich für ihn erledigt“. E.’s Beifahrer war Ordner der rechtsextremen „Deutsche Liga für Volk und Heimat“.
Velbert, Februar 1995. Eine siebenköpfige Gruppe, die sich zum „Penner klatschen“ gesammelt hat, tötet den Obdachlosen Horst P. im Stadtpark durch einen Messerstich. Die Staatsanwaltschaft sagt, am „nationalsozialistischen Hintergrund“ der Tat bestehe kein Zweifel, nachdem die Ermittler in den Wohnungen der Täter Hakenkreuzfahnen gefunden haben. Aber das Gericht glaubt, das Opfer sei willkürlich ausgewählt worden – und schickt den Haupttäter wegen Mordes und gefährlicher Körperverletzung für zehn Jahre in Gefängnis.
Gladbeck, Bochum, Duisburg
Gladbeck, Juli 1995. Dagmar K. (29) wird vom Neonazi Thomas L. und dessen Lebensgefährtin ermordet. Später begeht er zwei weitere Tötungsdelikte, wird vom Essener Landgericht mit Lebenslang und Sicherungsverwahrung bestraft. Der Mord an Dagmar L. gilt bis heute nicht als Tat mit rechtem Hintergrund.
Bochum, Oktober 1997. Der Rentner Josef Anton G. stirbt drei Tage, nachdem ihn Skinheads mit einem Stahlrohr niedergeschlagen haben. „Sieg Heil“ hatten die beiden Täter vorher gerufen. Es seien „Rechtsradikale“ gewesen, hat auch der schwer verletzte Rentner vor seinem Tod den Fahndern gesagt. Das Bochumer Landgericht verurteilte Patrick K. und Uwe K. wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu Freiheitsstrafen von fünf und sechs Jahren. Ein rechter Hintergrund? Der Staatsanwalt schloss dies wegen „schwerer Alkoholabhängigkeit“ der Täter aus.
Duisburg, März 1999. Drei Skinheads töten den 58-jährigen Egon E. unter anderem mit einem Tritt in den Kehlkopf. Trotz seiner Hilferufe greift niemand ein. Sie hätten Lust auf eine Menschenjagd gehabt, sagen die Täter nach der Festnahme aus. Oliver P., den die Bundeswehr zuvor wegen rechtsextremer Umtriebe herausgeworfen hatte, wird zu lebenslanger Haft verurteilt.
Dortmund, Overath, wieder Dortmund
Dortmund, Juni 2000. Es ist der wohl dramatischste Fall, das Motiv könnte im Hass auf die Polizei und das politische System liegen. Opfer sind die drei Polizeibeamten Thomas G., Mathias L. und Yvonne K. Sie werden in Dortmund und Waltrop vom Rechtsextremisten Michael B. erschossen. Er hatte zunächst das Feuer bei einer Fahrzeugkontrolle eröffnet, als ihn Thomas G. wegen Nichtanlegen des Gurtes angehalten hatte. Später erschießt sich Michael B. selbst. In der Wohnung finden die Ermittler Waffen, Handgranaten, Mitgliederausweise der DVU und der Republikaner und Aufkleber wie „Töte sie alle“. In Dortmund werden nach B.’s Selbsttötung Sticker gefunden mit der Aufschrift „B. war ein Freund von uns, 3:1 für Deutschland“ und „Scheiss Bullen. Krepieren sollen sie alle“.
Overath bei Köln, Oktober 2003. Der nächste Dreifach-Mord, die Tatwaffe: Eine Pumpgun. Opfer sind ein Anwalt und seine Mitarbeiterinnen. Der Anwalt Hartmut N. hatte in einem Mietschuldenprozess die Gegenseite des Täters vertreten. Bei den Morden trug Thomas A. einen Hemdkragen mit SS-Runen. Er verfasste nach der Tat Flugblätter, auf denen „die Befreiung des Reichsgebiets und strafrechtliche Verfolgung der Hochverräter“ durch eine Schutzstaffel angekündigt wurden. Im Lebenslang-Urteil heißt es, „seine NS-Anschauung habe Thomas A. „ein Handeln mit Härte, Entschlossenheit und ungerührtem Vollstreckerwillen“ ermöglicht.
Noch einmal Dortmund, März 2005. Der bekennende rechtsextreme Sven K., der Punks für „Zecken“ hält, tötet den 31-jährigen Thomas S. mit dem Messer, nachdem ihn dieser wegen einer Auseinandersetzung mit Punks zur Rede gestellt hatte.
Die Einsicht kam erst mit den Morden der Zwickauer Zelle
Warum Ermittler und Gerichte in mehreren dieser Fälle den Nazi-Hintergrund nicht als tatrelevant gesehen haben? Die Bundesregierung hatte dafür noch 2011 eine Erklärung: „Kriminell auffällige Personen aus dem rechtsextremen Milieu weisen oftmals auch eine stattliche Karriere in der Allgemeinkriminalität auf“.
So würde sie das nach der Enttarnung der Zwickauer Zelle nicht mehr aufschreiben. Die Aufarbeitung vieler ungeklärter Fälle durch das BKA ist jetzt Folge der Einsicht, dass – anders als bei den Morden der linksextremen RAF in den 1970er Jahre – nicht nach jeder Tat mit politischem Hintergrund ein Bekennerschreiben eingeht.