Essen.. Michail Gorbatschow wird 80. Im Westen riefen sie ihn „Gorbi, Gorbi!“, während zu Hause das Reich zerfiel. Russland hat daher mit dem Jubilar bis heute keinen Frieden gemacht.

Gerade hat er sich wieder gemeldet, die Heftigkeit seiner Tirade ließ aufhorchen: Der Ministerpräsident sei ein „Zar“, sagte er im Interview mit seiner eigenen Zeitung, der Kreml-kritischen „Nowaja Gaseta“. Die führende Klasse sei „Reich und verdorben“ und leiste sich Ausschweifungen, für die man sich nur schämen könne. Wo andere sich vom zornigen jungen Mann zum altersmilden Väterchen entwickeln, scheint es bei Gorbatschow umgekehrt: Heute schimpft er seinen Zorn her­aus, in der Mitte seines Lebens war er milde. Zu milde?

Michail Gorbatschow

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Michail Sergejewitsch Gorbatschow wird 80 Jahre alt. Herzlichen Glückwunsch!
Michail Sergejewitsch Gorbatschow wird 80 Jahre alt. Herzlichen Glückwunsch! © imago stock&people | imago stock&people
Im März 1985 wurde Michail Sergejewitsch Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU. Was schon damals auffiel: Der Mann war 55, viel jünger als seine greisen Vorgänger Tschernenko, Andropow und Breschnew, die alle im Amt verstarben. Gorbatschow...
Im März 1985 wurde Michail Sergejewitsch Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU. Was schon damals auffiel: Der Mann war 55, viel jünger als seine greisen Vorgänger Tschernenko, Andropow und Breschnew, die alle im Amt verstarben. Gorbatschow... © Unbekannt | Unbekannt
...war von seinem bisherigen Werdegang Aparatschik durch und durch. Hier sieht man ihn als zweiten von rechts bei der Mai-Parade 1983 vor dem Lenin-Mausoleum. Doch er war auch Pragmatiker. Margaret Thatcher,...
...war von seinem bisherigen Werdegang Aparatschik durch und durch. Hier sieht man ihn als zweiten von rechts bei der Mai-Parade 1983 vor dem Lenin-Mausoleum. Doch er war auch Pragmatiker. Margaret Thatcher,... © imago stock&people | imago stock&people
...die britische Premierministerin, hatte gleich einen guten Eindruck von ihm.
...die britische Premierministerin, hatte gleich einen guten Eindruck von ihm. "We can do business with him", urteilte sie - "Mit ihm kann man ins Geschäft kommen." Das Bild ist von 1985. "Ein moderner kommunistischer Führer,... © imago stock&people | imago stock&people
...der etwas von PR versteht. Und Goebbels verstand auch was von PR, man muss doch mal die Dinge auf den Punkt bringen!
...der etwas von PR versteht. Und Goebbels verstand auch was von PR, man muss doch mal die Dinge auf den Punkt bringen!" Das war das Urteil von Helmut Kohl 1986. Ein holpriger Start, doch das Verhältnis besserte sich. Hier ein Besuch Kohls in Moskau 1988. Entscheidend... © Unbekannt | Unbekannt
...für das, was dann passierte, war aber das Tauwetter in den Beziehungen zu den USA. Hier ein erster Gipfel mit Präsident Ronald Reagan im November 1985 in Genf. Später traf man sich...
...für das, was dann passierte, war aber das Tauwetter in den Beziehungen zu den USA. Hier ein erster Gipfel mit Präsident Ronald Reagan im November 1985 in Genf. Später traf man sich... © imago stock&people | imago stock&people
...auch in Moskau, hier 1988 vor der Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz, oder...
...auch in Moskau, hier 1988 vor der Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz, oder... © imago stock&people | imago stock&people
...im Jahr darauf mit Reagans Nachfolger George Bush an Bord der
...im Jahr darauf mit Reagans Nachfolger George Bush an Bord der "Maksim Gorki" vor Malta. Gorbatschow hatte erkannt, dass die Sowjetunion das Wettrüsten mit den USA nicht mehr gewinnen konnte, und suchte in Abrüstungsverhandlungen sein Heil. Gleichzeitig... © imago stock&people | imago stock&people
...musste er die Staatschefs in den Satellitenstaaten von seinem Entspannungskurs überzeugen. Hier ein Bild mit Erich Honecker 1986 in Ost-Berlin. Ein gespanntes Verhältnis, aber die Fassade...
...musste er die Staatschefs in den Satellitenstaaten von seinem Entspannungskurs überzeugen. Hier ein Bild mit Erich Honecker 1986 in Ost-Berlin. Ein gespanntes Verhältnis, aber die Fassade... © imago stock&people | imago stock&people
...musste gewahrt bleiben - auch mit dem Bruderkuss. Hier ein Küsschen auf dem Flughafen.
...musste gewahrt bleiben - auch mit dem Bruderkuss. Hier ein Küsschen auf dem Flughafen. © Unbekannt | Unbekannt
Spätestens hier traten die Risse aber offen zutage: Gorbatschow mit Honecker auf der Ehrentribüne bei der Parade zum 40. Geburtstag der DDR 1989. Bei diesem Besuch warb Gorbatschow für den Wandel und ermahnte die Parteiführung, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Es folgten...
Spätestens hier traten die Risse aber offen zutage: Gorbatschow mit Honecker auf der Ehrentribüne bei der Parade zum 40. Geburtstag der DDR 1989. Bei diesem Besuch warb Gorbatschow für den Wandel und ermahnte die Parteiführung, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Es folgten... © Unbekannt | Unbekannt
...der Einsturz der Mauer, die Entmachtung der SED und der Vorstoß des Bundeskanzlers für eine Wiedervereinigung. Gorbatschow ließ ihn gewähren und unterschrieb mit ihm im September 1990 den Vertrag zur Deutschen Einheit. Der Kult um
...der Einsturz der Mauer, die Entmachtung der SED und der Vorstoß des Bundeskanzlers für eine Wiedervereinigung. Gorbatschow ließ ihn gewähren und unterschrieb mit ihm im September 1990 den Vertrag zur Deutschen Einheit. Der Kult um "Gorbi, Gorbi" hatte da... © imago stock&people | imago stock&people
...schon längst begonnen. Hier eine Stuttgarterin beim Empfang des Russen 1989. Oder Gorbatschow bei Hoesch...
...schon längst begonnen. Hier eine Stuttgarterin beim Empfang des Russen 1989. Oder Gorbatschow bei Hoesch... © Unbekannt | Unbekannt
...in Dortmund im Juni 1989. Auf dem Podium mit Christina und Johannes Rau - und im Publikum Stahlarbeiter, die...
...in Dortmund im Juni 1989. Auf dem Podium mit Christina und Johannes Rau - und im Publikum Stahlarbeiter, die... © imago stock&people | imago stock&people
...Plakate gemalt hatten wie zu besten DDR-Zeiten. Es gab aber auch kritische Stimmen. Nur zwei Monate, nachdem er den Friedensnobelpreis erhalten hatte, ließ Gorbatschow...
...Plakate gemalt hatten wie zu besten DDR-Zeiten. Es gab aber auch kritische Stimmen. Nur zwei Monate, nachdem er den Friedensnobelpreis erhalten hatte, ließ Gorbatschow... © imago stock&people | imago stock&people
...in der abtrünnigen Sowjetrepublik Litauen die Panzer rollen. Menschen starben. Und irgendjemand verglich Gorbatschow mit Saddam Hussein (Berlin 1991). Die große Sowjetunion, sie löste sich langsam auf. Als Gorbatschow...
...in der abtrünnigen Sowjetrepublik Litauen die Panzer rollen. Menschen starben. Und irgendjemand verglich Gorbatschow mit Saddam Hussein (Berlin 1991). Die große Sowjetunion, sie löste sich langsam auf. Als Gorbatschow... © Unbekannt | Unbekannt
...im Dezember 1990 vor den Volksdeputierten im Kreml sprach, da saß der kommende Mann schon hinter ihm - Boris Jelzin. Im August 1991...
...im Dezember 1990 vor den Volksdeputierten im Kreml sprach, da saß der kommende Mann schon hinter ihm - Boris Jelzin. Im August 1991... © imago stock&people | imago stock&people
...putschten Gorbatschows Gegner in Moskau, während der Präsident mit Familie in seinem Urlaubsdomizil auf der Krim festgehalten wurde. Es war Jelzin, der die Putschisten besiegte. Als Gorbatschow nach Moskau zurückkehrte (unser Bild), war er praktisch entmachtet. Es folgten...
...putschten Gorbatschows Gegner in Moskau, während der Präsident mit Familie in seinem Urlaubsdomizil auf der Krim festgehalten wurde. Es war Jelzin, der die Putschisten besiegte. Als Gorbatschow nach Moskau zurückkehrte (unser Bild), war er praktisch entmachtet. Es folgten... © imago stock&people | imago stock&people
...die Auflösung der Sowjetunion, die Verarmung der Massen und der Absturz der Gorbatschows im öffentlichen Ansehen. Erst als Raissa Gorbatschowa, die stets elegant gekleidete Frau des Ex-Präsidenten...
...die Auflösung der Sowjetunion, die Verarmung der Massen und der Absturz der Gorbatschows im öffentlichen Ansehen. Erst als Raissa Gorbatschowa, die stets elegant gekleidete Frau des Ex-Präsidenten... © imago stock&people | imago stock&people
...im September 1999 an Krebs starb, da hatten die Russen wieder Mitgefühl mit dem Mann, dem sie den Ausverkauf russischer Interessen vorwarfen. Hier Gorbatschow am Sarg seiner Frau, und hier...
...im September 1999 an Krebs starb, da hatten die Russen wieder Mitgefühl mit dem Mann, dem sie den Ausverkauf russischer Interessen vorwarfen. Hier Gorbatschow am Sarg seiner Frau, und hier... © imago stock&people | imago stock&people
...Wladimir Putin, der damals gerade frisch im Amt des Ministerpräsidenten war. Er ließ in Russland bald einen anderen Wind wehen - für Gorbatschow...
...Wladimir Putin, der damals gerade frisch im Amt des Ministerpräsidenten war. Er ließ in Russland bald einen anderen Wind wehen - für Gorbatschow... © imago stock&people | imago stock&people
...war das der Start in eine zweite Karriere als Bürgerrechtler. Seither setzte er sich für Demokratie und Menschenrechte ein. So stellte er etwa 2007 in seiner Gorbatschow-Stiftung das Buch der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja vor; und so sprach...
...war das der Start in eine zweite Karriere als Bürgerrechtler. Seither setzte er sich für Demokratie und Menschenrechte ein. So stellte er etwa 2007 in seiner Gorbatschow-Stiftung das Buch der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja vor; und so sprach... © imago stock&people | imago stock&people
...er auch im selben Jahr in Bochum auf der Konferenz
...er auch im selben Jahr in Bochum auf der Konferenz "Herausforderung Zukunft". Trotzdem wird er den Deutschen... © Jürgen Theobald | Jürgen Theobald
...wohl immer als Öffner des Eisernen Vorhangs in Erinnerung bleiben (hier bei einer Preisverleihung mit George Bush und Helmut Kohl 2005). Und natürlich durch seinen berühmtesten Satz, den...
...wohl immer als Öffner des Eisernen Vorhangs in Erinnerung bleiben (hier bei einer Preisverleihung mit George Bush und Helmut Kohl 2005). Und natürlich durch seinen berühmtesten Satz, den... © Unbekannt | Unbekannt
...er allerdings nie selbst gesagt hat. Was da auf einem Mauerrest in Berlin steht, sind Worte seines Sprechers Gerassimow. Gorbatschow selbst sagte im Oktober 1989 in Ost-Berlin:
...er allerdings nie selbst gesagt hat. Was da auf einem Mauerrest in Berlin steht, sind Worte seines Sprechers Gerassimow. Gorbatschow selbst sagte im Oktober 1989 in Ost-Berlin: "Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren." Woran er sich messen lassen kann. © imago stock&people | imago stock&people
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Michail Gorbatschow wird am Mittwoch 80. Für die meisten Russen ist das kein Grund zum Feiern, sie mögen ihn immer noch nicht. Der Erfinder der Perestroika und Friedensnobelpreisträger von 1990 stürzte schon Anfang der 90er-Jahre vom Präsidenten zur Unperson ab. Nur langsam gewinnt er wieder an Ansehen zurück – so langsam, dass man sich fragt, ob er die Rehabilitierung noch erleben wird.

Warmer Bariton im Weißen Haus

Im Westen versteht man das nicht. Von Anfang an bestaunte man den neuen Typ Sowjetmensch, der da im März 1985 Generalsekretär wurde. Bis da­hin wurde die UdSSR von den versteinerten Mienen greisenhafter Apparatschiks re­prä­sentiert. Und nun kam er, der mit einem Lächeln und ausgestreckten Armen gleich Je­dermann für sich gewann. Neue Zeiten waren das: 1987 besiegelte Gorbatschow in Washington den ersten großen Abrüstungsvertrag. Am Abend spielte das Klavier im Weißen Haus „Moskauer Nächte“ – und der Generalsekretär gab eine Kostprobe seines warmen Baritons. (Vor zwei Jahren spielte Gorbatschow sogar eine Platte mit Liebesliedern für seine verstorbene Frau Raissa ein.)

Es folgten Reformen, der Sturz der Betonköpfe, „Gorbi“-Rufe ­­in ganz Europa – nicht nur in der DDR. Sein Berater Tschernjajew erinnerte sich an einen Auftritt Ende 1989 in Mailand. „In den Fenstern, auf den Balkonen – überall hingen eng zusammengepresste Menschen und schrien ,Gorbi, Gorbi!’“ Der Generalsekretär habe seine Rede kaum halten können – so sehr sei er erschrocken.

Natürlich, die Scorpions

Und auch jetzt rollt ihm Europa wieder den Teppich aus: Vergangene Woche gab die Bundeskanzlerin ihm zu Ehren ein Mittagessen in Berlin, Ende März steigt ein Konzert in London, wo Brian Ferry und Paul Anka sich vor ihm verneigen werden – und, na­türlich, die Scorpions.

Doch das macht ihn für Russen noch verdächtiger. „Totengräber der Sowjetunion“ ha­ben sie Michail Sergejewitsch ge­nannt. Seine Glasnost (Pluralismus) und seine Perestroika (Umbau) riefen in Zentralasien, im Kaukasus und im Baltikum die lang unterdrückten Separatisten auf den Plan – und schließlich, in Person von Boris Jelzin, auch in Russland selbst. Gorbatschow verstand diese Entwicklung augenscheinlich nicht und handelte entsprechend. Mal ließ er auf Un­schuldige schießen, mal sah er Ge­walt­ausbrüchen tatenlos zu. Als „fanatischer Kompromissschmied“, dem die Kontrolle entglitt, zeichnet György Da­los ihn in einer aktuellen Biografie. Nun geriet sogar Gor­batschows Sprache zum Makel, sein weicher südrussischer Singsang – man machte sich lustig darüber wie die Deutschen bei Helmut Kohl.

Rentner bettelten in den Unterführungen

Und dann war da noch die Armut, die Ende der 80er-Jahre grassierte. Unterführungen und Kirchenportale füllten sich mit bettelnden Rentnern. Die Schlangen vor den leeren Läden sagten es so: „Er versprach uns Wahrheit. Und was haben wir bekommen? Wahrheit, Wahrheit und nichts als die Wahrheit.“

So kommt es, dass Gorbatschow der heutigen Politikergeneration eher Mahnung ist als Vorbild. Sie fürchten Reformen, sie lieben die Macht. Und pflegen auch wieder die alte Körpersprache. Es wird daher – darüber darf man sich wohl keine Illusionen machen – in Wladimir Putins Ohren wie ein Kompliment klingen, dass dieser Gorbatschow ihn einen Zaren schimpft.