Essen.. Michail Gorbatschow wird 80. Im Westen riefen sie ihn „Gorbi, Gorbi!“, während zu Hause das Reich zerfiel. Russland hat daher mit dem Jubilar bis heute keinen Frieden gemacht.
Gerade hat er sich wieder gemeldet, die Heftigkeit seiner Tirade ließ aufhorchen: Der Ministerpräsident sei ein „Zar“, sagte er im Interview mit seiner eigenen Zeitung, der Kreml-kritischen „Nowaja Gaseta“. Die führende Klasse sei „Reich und verdorben“ und leiste sich Ausschweifungen, für die man sich nur schämen könne. Wo andere sich vom zornigen jungen Mann zum altersmilden Väterchen entwickeln, scheint es bei Gorbatschow umgekehrt: Heute schimpft er seinen Zorn heraus, in der Mitte seines Lebens war er milde. Zu milde?
Michail Gorbatschow
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Michail Gorbatschow wird am Mittwoch 80. Für die meisten Russen ist das kein Grund zum Feiern, sie mögen ihn immer noch nicht. Der Erfinder der Perestroika und Friedensnobelpreisträger von 1990 stürzte schon Anfang der 90er-Jahre vom Präsidenten zur Unperson ab. Nur langsam gewinnt er wieder an Ansehen zurück – so langsam, dass man sich fragt, ob er die Rehabilitierung noch erleben wird.
Warmer Bariton im Weißen Haus
Im Westen versteht man das nicht. Von Anfang an bestaunte man den neuen Typ Sowjetmensch, der da im März 1985 Generalsekretär wurde. Bis dahin wurde die UdSSR von den versteinerten Mienen greisenhafter Apparatschiks repräsentiert. Und nun kam er, der mit einem Lächeln und ausgestreckten Armen gleich Jedermann für sich gewann. Neue Zeiten waren das: 1987 besiegelte Gorbatschow in Washington den ersten großen Abrüstungsvertrag. Am Abend spielte das Klavier im Weißen Haus „Moskauer Nächte“ – und der Generalsekretär gab eine Kostprobe seines warmen Baritons. (Vor zwei Jahren spielte Gorbatschow sogar eine Platte mit Liebesliedern für seine verstorbene Frau Raissa ein.)
Es folgten Reformen, der Sturz der Betonköpfe, „Gorbi“-Rufe in ganz Europa – nicht nur in der DDR. Sein Berater Tschernjajew erinnerte sich an einen Auftritt Ende 1989 in Mailand. „In den Fenstern, auf den Balkonen – überall hingen eng zusammengepresste Menschen und schrien ,Gorbi, Gorbi!’“ Der Generalsekretär habe seine Rede kaum halten können – so sehr sei er erschrocken.
Natürlich, die Scorpions
Und auch jetzt rollt ihm Europa wieder den Teppich aus: Vergangene Woche gab die Bundeskanzlerin ihm zu Ehren ein Mittagessen in Berlin, Ende März steigt ein Konzert in London, wo Brian Ferry und Paul Anka sich vor ihm verneigen werden – und, natürlich, die Scorpions.
Doch das macht ihn für Russen noch verdächtiger. „Totengräber der Sowjetunion“ haben sie Michail Sergejewitsch genannt. Seine Glasnost (Pluralismus) und seine Perestroika (Umbau) riefen in Zentralasien, im Kaukasus und im Baltikum die lang unterdrückten Separatisten auf den Plan – und schließlich, in Person von Boris Jelzin, auch in Russland selbst. Gorbatschow verstand diese Entwicklung augenscheinlich nicht und handelte entsprechend. Mal ließ er auf Unschuldige schießen, mal sah er Gewaltausbrüchen tatenlos zu. Als „fanatischer Kompromissschmied“, dem die Kontrolle entglitt, zeichnet György Dalos ihn in einer aktuellen Biografie. Nun geriet sogar Gorbatschows Sprache zum Makel, sein weicher südrussischer Singsang – man machte sich lustig darüber wie die Deutschen bei Helmut Kohl.
Rentner bettelten in den Unterführungen
Und dann war da noch die Armut, die Ende der 80er-Jahre grassierte. Unterführungen und Kirchenportale füllten sich mit bettelnden Rentnern. Die Schlangen vor den leeren Läden sagten es so: „Er versprach uns Wahrheit. Und was haben wir bekommen? Wahrheit, Wahrheit und nichts als die Wahrheit.“
So kommt es, dass Gorbatschow der heutigen Politikergeneration eher Mahnung ist als Vorbild. Sie fürchten Reformen, sie lieben die Macht. Und pflegen auch wieder die alte Körpersprache. Es wird daher – darüber darf man sich wohl keine Illusionen machen – in Wladimir Putins Ohren wie ein Kompliment klingen, dass dieser Gorbatschow ihn einen Zaren schimpft.
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