Berlin. Die Lauschangriffe des US-Geheimdienstes NSA auf Deutschlands Regierungschef haben wohl Tradition: Nicht nur Kanzlerin Merkel wurde auf dem Handy abgehört - auch ihr Vorgänger Schröder war Zielperson, wie Medien-Recherchen jetzt nahelegen. Politiker fordern Aufklärung von den USA.
Der US-Geheimdienst NSA hat laut Medienberichten aller Wahrscheinlichkeit nach bereits vor gut zehn Jahren das Telefon des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) abgehört. Anlass war nach Recherchen des Norddeutschen Rundfunks (NDR) und der "Süddeutschen Zeitung" (Mittwoch) Schröders Konfrontationskurs vor dem Irak-Krieg 2003. In deutschen Regierungskreisen wird seit längerem vermutet, dass nicht erst die jetzige Kanzlerin Angela Merkel (CDU), sondern schon die frühere rot-grüne Regierung Ziel von Ausspähungen durch die NSA war.
Den Berichten zufolge nahm die National Security Agency (NSA) Schröder spätestens 2002 unter der Nummer 388 in eine Liste auf, in der überwachte Personen und Institutionen geführt wurden. Schröder erklärte dazu den Medienangaben zufolge, er habe sich vor Bekanntwerden der NSA-Affäre das massenhafte Ausspähen nicht vorstellen können. "Damals wäre ich nicht auf die Idee gekommen, von amerikanischen Diensten abgehört zu werden; jetzt überrascht mich das nicht mehr."
Snowden-Dokument soll Recherchen stützen
Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele, der kürzlich den US-Geheimdienst-Enthüller Edward Snowden in Moskau getroffen hatte, sagte den Berichten zufolge: "Ich kann diese Information bestätigen. Nach meinen Informationen ist es tatsächlich so gewesen, dass 2002/2003 Bundeskanzler Schröder und vermutlich auch andere aus der damaligen rot-grünen Bundesregierung abgehört worden sind. Der Grund dafür scheint ja gewesen zu sein, dass die US-Seite sich informieren wollte über die Position Deutschlands zum Irak-Krieg und insbesondere über Aktivitäten Deutschlands zur Verhinderung eines UNO-Beschlusses."
Die Aussagen der amerikanischen und der deutschen Quellen werden nach den Medienberichten auch durch ein Dokument aus dem Bestand Snowdens gestützt. Das Papier, das offenbar aus jüngerer Zeit stamme, nenne das Jahr 2002 als Beginn der Lauschaktion und den Namen von Kanzlerin Merkel. Bislang war es so interpretiert worden, dass ein Handy der Kanzlerin vor zwölf Jahren erstmals ausgespäht wurde. Damals war Merkel noch CDU-Vorsitzende.
Abhörprogramm zielte auf den jeweiligen Bundeskanzler
NSA-Insider, denen die Zeitung und der NDR eine Abschrift des Snowden-Dokuments vorlegten, erklären das Papier nun neu: Der Auftrag des Abhörprogramms habe nicht der Person, sondern der Funktion gegolten. Das Dokument zeige lediglich, dass seit 2002 der jeweilige Bundeskanzler abgehört worden sei. Auf der Liste sei jeweils der aktuelle Name des Kanzlers oder der Kanzlerin notiert worden. Demnach wurde Merkel vermutlich ab 2005 abgehört, quasi als Nachfolgerin von Schröder.
Der Auftrag für die NSA - dies gelte offenbar für den Fall Schröder wie für Merkel - solle nicht nur die Erfassung der Verbindungsdaten, sondern auch des geschriebenen und gesprochenen Wortes vorgesehen haben. Inzwischen hat US-Präsident Barack Obama erklärt, dass Merkel während seiner Amtszeit nicht mehr abgehört werde.
SPD-Politiker warnt vor Misstrauen gegen über USA
Ströbele bekräftigte im dpa-Interview, dass es für die deutsche Seite dringend der Informationen des Geheimdienst-Enthüllers bedürfe, denn die Details könnten nur noch Experten entschlüsseln: "Dafür brauchen wir Herrn Snowden." Der von den USA gesuchte Snowden versteckt sich seit Monaten im russischen Asyl.
Mit Blick auf die jüngsten Berichte über Abhörmaßnehmen der NSA gegen den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder hat der SPD-Fraktionsvize Rolf Mützenich die USA erneut zu einer umfassende Aufklärung aufgefordert. "Angesichts immer neuer Enthüllungen über die systematische Ausspähung politischer Entscheidungsträger durch die NSA sollte die amerikanische Regierung endlich von sich aus zur umfassenden Aufklärung beitragen", sagte er dem "Kölner Stadt-Anzeiger" (Mittwochsausgabe). "Die transatlantischen Beziehungen dürfen nicht weiter durch wachsendes Misstrauen ausgehöhlt werden."
Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, Konstantin von Notz, sieht hingegen auch die Bundesregierung in der Pflicht. Der Aufklärungsbedarf sei "nach wie vor erheblich", sagte er "Handelsblatt Online". "Es ist mehr als bedauerlich, dass die Bundesregierung offensichtlich keinen Ehrgeiz entwickelt, diese Vorgänge entschlossen aufzuklären", kritisierte der Grünen-Politiker. (dpa/afp)