So widerborstig wie an diesem Wochenende war das Volk lange nicht. Zigtausende werden heute in Stuttgart, im Wendland und in Hannover auf die Straße gehen. Gegen Stuttgart 21. Gegen Castor-Transporte und die verlängerte Lebensarbeitszeit von Atom-Meilern. Gegen das fortschreitende Aus­einanderfallen des gesellschaftlichen Oben und Unten. Der Souverän stellt dem „Herbst der Entscheidungen“ der Kanzlerin den heißen Herbst des Protestes entgegen. Folgt ein Winter der Verbitterung?

Mögen die inhaltlichen und mentalen Schnittmengen zwischen Bahnhofs-Neubaugegnern, Anti-Atom-Bewegten und um den sozialen Kitt der Gesellschaft besorgten Gewerkschaftern auch überschaubar sein, so birgt das Protest-Potenzial für die politische Klasse doch echte Gefahren. Nur ein Wasserwerfer mehr im Schwäbischen, nur ein unverhältnismäßig erscheinender Polizeieinsatz gegen den zivilen Ungehorsam in Gorleben, nur eine weitere vergiftende spät-römische Dekadenz-Attacke auf die Gegner des Sozialabbaus – der Zündfunke für ein Themen übergreifendes Anti-Regierungsbündnis könnte Feuer fangen.

Mit einem Generalstreik-Klima á la Frankreich wäre aber niemandem gedient. Die Blockade zwischen Bürgern, die sich von der Politik unverstanden fühlen und Politikern, die Klage führen gegen die schwindende Veränderungsbereitschaft ihrer Wähler, würde sich nur weiter verfestigen. Aus 18 Millionen Wahlberechtigten, die bei der letzten Bundestagswahl Enthaltsamkeit übten, könnten leicht 25 oder 30 Millionen werden. Das Fundament politischer Beschlüsse würde bis zur Unkenntlichkeit zerbröseln.

Diesen Prozess des Verfalls von Vertrauen aufzuhalten, mindestens aber zu verlangsamen, muss gerade im Lichte der Erfahrungen von Stuttgart 21 vornehmste Aufgabe der Politik sein. Der alte Pfad „Legitimation durch Verfahren“ ist ausgetrampelt. Er führt nicht mehr automatisch zum Ziel breiter Akzeptanz. Politische Vorhaben von Tragweite müssen nicht nur demokratisch und rechtlich unverdächtig zustande kommen. Sie sind auch fortlaufend für den Laien verständlich zu erläutern, zu begründen, zu verteidigen – und notfalls zu korrigieren.

Diese auf gleiche Augenhöhe zielende Kommunikation zwischen Volk und Volksvertretern ist aufwendig. Aber lohnender, als Sachzwänge vorzuschieben und jene als Fortschrittsfeinde zu verunglimpfen, die in einer Welt, die sich der Grenzen des Wachstums immer bewusster wird, etwas Vernünftiges tun: zweifeln, ob alles technisch Machbare wirklich nachhaltigen Nutzen erzeugt.