Berlin. Als "barbarisch" und "asozial" hat Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse das Urteil zur Kündigung der Supermarkt-Kassiererin Barbara E. bezeichnet. Das Landesarbeitsgericht sprach von einer "Entgleisung" des SPD-Politikers. Der Berliner Anwaltsverein legte Thierse den Rücktritt nahe.
Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) hat das Urteil zur Kündigung der Supermarkt-Kassiererin Barbara E. als "barbarisch" und "asozial" bezeichnet, was bei der Justiz auf scharfe Kritik gestoßen ist. Derartige Äußerungen seien "untragbar und stellen bereits in ihrer Wortwahl eine Entgleisung dar», erklärte die Präsidentin des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg, Karin Aust-Dodenhoff.
Thierse sagte der «Berliner Zeitung» vom Donnerstag, die Kassiererin sei wegen einer «Nichtigkeit» in die Arbeitslosigkeit gestoßen worden. «Das Gericht hätte durchaus anders entscheiden können», fügte Thierse hinzu. Es hätte zum Beispiel berücksichtigen können, dass die Kassiererin für ihr Unternehmen 31 Jahre lang Knochenarbeit geleistet hat. Ein solches Urteil zerstöre das Vertrauen in die Demokratie.
"Diffamierung der Gerichte"
Aust-Dodenhoff sprach sich für eine sachliche Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung aus. «Diffamierungen der Gerichte, zumal von einem der höchsten Repräsentanten unseres Landes, sind demgegenüber in keiner Weise hinnehmbar.» Vielmehr seien sie geeignet, das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsprechung zu beeinträchtigen. Außerdem griffen in die Unabhängigkeit der Gerichte ein.
Der Vorsitzende des Berliner Anwaltsvereins, Ulrich Schellenberg, forderte: «Wolfgang Thierse muss sich für seine verbale Entgleisung entschuldigen.» Er habe aus «rein populistischen Gründen die Unabhängigkeit der Gerichte in Frage gestellt». Schellenberg legte Thierse sogar den Rücktritt vom Amt des Bundestagsvizepräsidenten nahe.
Wenn er das Urteil eines deutschen Gerichts als «barbarisch» bezeichne und von «asozialer Qualität» spreche, sei er als führender Repräsentant des Landes nicht tragbar, sagte der Anwalt.
Das Landesarbeitsgericht Berlin hatte am Mittwoch die umstrittene Kündigung der Frau wegen der Unterschlagung von 1,30 Euro endgültig bestätigt. Die Supermarkt-Kassiererin soll zwei Leergutbons für sich eingelöst haben, die Kunden zuvor verloren hatten. Die 50-Jährige bestreitet die Tat.
Linke kritisiert das Urteil auch
Unterdessen übte auch die Linke Kritik am Urteil des Landesarbeitsgerichts. Die Begründung der Richter sei «von einer unbarmherzigen Sichtweise geprägt, die die existentiellen Arbeitnehmerinteressen vollständig ausblendet», erklärte Fraktionsvize Wolfgang Neskovic. Der Umstand, dass das Landesarbeitsgericht sich auf eine langjährige Rechtsprechungspraxis berufen kann, mache die Sache keineswegs besser.
«Dadurch wird das Gericht nicht vom eigenen Nachdenken entbunden.» In einem sozialstaatlich ausgerichteten Kündigungsschutzrecht müssten die existentiellen Folgen einer Kündigung in einem angemessenen Verhältnis zu den Gründen der Kündigung stehen. (afp/ap)