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Ihre Namen kennen nur Insider. Trotzdem haben Matthias von Hermann, Walter Scheuerl und Sebastian Frankenberger in diesem Jahr die Politik in Deutschland kräftig mitbestimmt - etwa bei „Stuttgart 21“, Rauchverboten und Schulreformen.

Matthias von Hermann. Walter Scheuerl. Sebastian Frankenberger. Es sind die drei einflussreichen Politikmacher im Jahr 2010. Matthias wer? Scheuerl statt Merkel? Frankenberger statt Gabriel? Ihre Erfolgsbilanz jedenfalls fällt eindrucksvoll aus. Professorensohn von Hermann ist das Gesicht der Revolte gegen „Stuttgart21“. Der renommierte Anwalt Scheuerl hat in Hamburg die schwarz-grüne Schulreform gestoppt. Der junge Passauer Stadtrat Frankenberger setzte in Bayern das Rauchverbot im Bierzelt durch. Manche hassen ihn dafür: „Wichser, schleich dich“.

Daraus wird so schnell nichts. TV-Bilder aus der Schwabenmetropole zeigen jeden Tag: Irgendwas verschiebt sich in Deutschlands politischen Entscheidungsprozessen. Baden-Württembergs Landesregierung bringt das derzeit in die höchsten Nöte. Vermittler Geißler soll die Auseinandersetzung zwischen Staatskanzlei und Straße schlichten. Die Gegner meinen es ernst: „Ich bin kein Öko-Spinner“, sagt der 37-jährige Ober-Rebell von Hermann.

Der Parkschützer von „Stuttgart 21“

Matthias von Hermann, der „Parkschützer“, tritt gerne im Anzug und mit Krawatte auf. Er hat Politik und Chemie studiert. Und auch wenn er schon wegen Nötigung gegen einen Castor-Transport verurteilt ist: Bürgerlicher geht nicht. „Es macht Spaß, wenn jetzt die Politik reagiert“, sagt er. Er will sich reiben, will die Debatte. Von dem Mann wird man noch hören.

Seine Wortwahl könnte die von Walter Scheuerl sein. Der Kopf der Kampagne gegen die Hamburger Schulreform fühlte am Abend des gewonnenen Bürgervotums „Stolz. Wir haben gezeigt, dass die Menschen in dieser Stadt etwas durchsetzen können“. 276 304 Hanseaten waren gegen das Schulgesetz des Senats. Nur 218 065 dafür. Der vornehme Jurist aus Othmarschen bekam beim Feldzug gegen die sechsjährige Grundschule Zuspruch auch aus einfacheren Hamburger Stadtteilen.

Ein Sieg, den so auch Sebastian Frankenberger tief unten im Süden erlebte. 61 Prozent derjenigen, die sich an der Abstimmung über das totale Rauchverbot beteiligten, folgten seiner Linie. „Das Volk hat sich nicht von der Tabaklobby kaufen lassen“, freute sich der Passauer.

„Die meisten Politiker wissen nicht, was im wirklichen Leben los ist“

Hier „das Volk“ und „die Menschen“, dort die Politiker?. Hier „die Sache“, dort „die Ideologie“, gleich, ob rechts oder links? Die Rebellen, die Schlagzeilen machen, ziehen mit ihren Kampfparolen gerne solche neuen Trennlinien – und Umfragen geben ihnen Rückendeckung. Im ARD-Deutschlandtrend sagen 80 Prozent der Befragten: „Wichtige Entscheidungen werden bei uns getroffen, ohne dass die Interessen der Menschen berücksichtigt werden“. 85 Prozent glauben: „Die meisten Politiker wissen nicht, was im wirklichen Leben los ist“.

Die neue Bürger-Bewegung stellt Grundprinzipien dieser Republik in Frage. Denn die Entscheidungen, die sie anficht, sind glasklar nach den Regeln repräsentativer Demokratie zustande gekommen: In der Bürgerschaft Hamburgs hatten alle Fraktionen der Schulreform zugestimmt. Der geplante Stuttgarter Bahnhof hat den Segen von 15 Gremien – vom Regionalrat bis zum Bundestag. Nach Recht und Gesetz wurden in einem Jahrzehnt 10 000 Einsprüche abgearbeitet. Und die Rauchverbote? Es war eine gerade erst ins Amt gewählte bayrische Staatsregierung gewesen, die die Regeln lockerte.

Die rebellischen Köpfe koppeln ihren Widerstand an drei Prinzipien. Er ist lokal oder regional geerdet. Er richtet sich gegen eine konkrete Sache. Und er stützt sich auf Volksabstimmungen. Flächendeckend macht den Parlamenten dieser Trend Konkurrenz. Auf Ortsebene haben sich Bürgerbegehren seit Mitte der 90er Jahre verdreifacht. Allein 2009, meldet der Förderverein „Mehr Demokratie“, habe es 46 Volksbegehren und Volksentscheide gegeben. Schwerpunkte: Bildung, Kultur, kommunale Zuständigkeiten. Soziales war nur zu 18 Prozent der Gegenstand – möglicherweise ein Hinweis, dass die Bundespolitik mit ihren „großen Themen“ an der Wirklichkeit vorbeiarbeitet.

Dilemma zwischen aktueller Bürgermeinung und der Notwendigkeit

Sind demokratische Beschlüsse denn einfach so zu kippen? Gerne verteidigen sich die Parlamentarier mit dieser Fragestellung. Aber aus den Reihen der Stuttgarter Aufständischen kommt ein listiges Gegenargument: Kippen die Parteien nicht selbst oft Entscheidungen der Vorgänger? Was ist – im Bund - mit dem Ausstieg aus dem Atomausstieg? Was ist – in NRW- mit der Abschaffung der gerade erst beschlossenen Studiengebühren? Und wie oft korrigiert das Bundesverfassungsgericht Berliner Entscheidungen?

Verzweifelt wehrt sich die herkömmliche Politik gegen die Argumente, steckt oft im Dilemma zwischen aktueller Bürgermeinung und der Notwendigkeit, im Interesse zukünftiger Generationen zu handeln. Zunehmend legt sie auch von sich aus wichtige Entscheidungen direkt in Bürger-Hände. 140 Gemeinden in Deutschland praktizieren bereits den „Bürger-Haushalt“. Punkt für Punkt wird dabei in Einwohnerversammlungen der kommunale Etat fürs nächste Jahr durchgekaut – eine Sache, die sonst nur Räte hinter verschlossenen Türen des Hauptausschusses erledigen.

Ganz spannend wird es im nächsten Jahr in Hessen. Die Landesregierung wird ihren Plan einer Schuldenbremse im Etat dem Volk vorlegen müssen. Die Verfassung verlangt das. Bürger müssen erstmals abstimmen darüber, ob sie heute zu Gunsten der Zukunft ihrer Kinder sparen wollen.