Essen.
. Der Direktor des Jüdischen Museums Berlin, Prof. W. Michael Blumenthal, ist in Berlin aufgewachsen, vor den Nazis geflohen, war Wirtschaftsprofessor, Manager und enger Mitarbeiter der amerikanischen Präsidenten Kennedy und Johnson und Finanzminister in Carters Kabinett. Nun stellte der 84-Jährige bei der Stiftung Mercator in Essen seine Autobiographie „In achtzig Jahren um die Welt” vor. Im WAZ-Gespräch legt Prof. Blumenthal seine Sicht auf Deutschland und Zukunftsperspektiven dar.
Sie sind in letzter Minute dem nationalsozialitischen Deutschland entkommen. Was hat Sie bewogen, hierher zurückzukehren?
Blumenthal: Ich bin bereits 1953 das erste Mal wieder in Deutschland gewesen, das ich 1939 als Kind von 13 Jahren verlassen hatte. Ich bin in mein Geburtsland nicht aus Liebe zurückgekehrt, sondern aus Neugier. Mich hat die Frage bewegt: Was sind das für Menschen, was ist das für ein Land? Wie waren die schrecklichen Ereignisse möglich?
In den fast 50 Jahren danach habe ich bei verschiedenen Besuchen aus geschäftlichen Gründen und im Regierungsdienst die Entwicklung und die riesigen Veränderungen seit 1953 in Deutschland beobachten können. Zwar war es für mich nie ein Thema, zurückzukehren, um hier zu leben. Aber indem ich die sehr positiven Entwicklungen – gerade jetzt im wiedervereinigten Land – gesehen habe, komme ich immer lieber zurück. Ich habe großen Respekt vor Deutschland.
Wie haben Sie die Veränderungen wahrgenommen mit Blick auf den Krieg, auf die „Bonner Republik” und nun auf die „Berliner Republik”?
1953 war es noch ein sehr traumatisiertes Land. Das war noch nicht sehr erbaulich. Viele ehemalige Nazis und Mitläufer waren wieder in führenden Positionen. Über die Zeit des Krieges und die 30er-Jahre wurde am liebsten gar nicht gesprochen, und wenn doch, dann nur sehr wehleidig, ohne auf die Ereignisse einzugehen. Alle behaupteten, sie hätten nichts von den schrecklichen Ereignissen gewusst und natürlich nichts damit zu tun, wären sowieso entsetzt darüber und so weiter. Auch die wenigen Juden, die hier lebten, wollten wenig darüber sprechen. Aber bereits in der Bonner Republik, erst recht nach 1968, war eine neue Generation viel interessierter. Es wurden die Fragen gestellt, die vorher nicht gestellt worden waren. Das hat mir imponiert.
Deutschland war und ist heute noch das einzige Land, das die Verantwortung für das, was damals geschehen ist, nicht unter den Teppich gekehrt hat, sondern sich offen dazu stellte. Und nach der Wiedervereinigung bin ich wirklich erfreut darüber, dass Deutschland seine Verantwortung kennt und in der Welt eine positive Rolle spielt.
Was das deutsch-jüdische Verhältnis betrifft – haben wir „Normalität” erreicht?
Juden werden immer noch als etwas Anderes, aber nicht als normale Deutsche angesehen. Sie werden zuerst als Juden betrachtet und erst dann als Deutsche. Einerseits ist man an Juden interessiert, hat andererseits aber oft unklare und wenig kenntnisreiche Vorstellungen von ihnen. Ich hoffe sehr, dass sich auch das noch in späteren Generationen ändern wird. Das Verhältnis wird erst dann normal sein, wenn man in einem deutschen Juden zuerst den Deutschen sieht.
Den „Kalten Krieg” haben Sie in einflussreichen Positionen miterlebt. Die ehemaligen Blöcke sind längst aufgelöst – ist die Welt sicherer geworden?
In einiger Beziehung ist sie das, aber sicher ist sie nicht. Zwar ist die große Gefahr, in einen atomaren Krieg zu rutschen, nun vorbei. Und dass die Globalisierung die Menschen näher zueinander gebracht, dass sich der Lebensstandard in vielen Ländern verbessert hat und dass große Länder wie China, Indien, Brasilien und andere einen riesigen Aufschwung erlebt haben – all das ist positiv zu bewerten und macht die Welt sicherer. Allerdings sind mit der Globalisierung auch neue Probleme aufgetaucht: Terrorismus, Schwierigkeiten mit der muslimischen Welt; auch haben in den USA, in Europa und anderen Teilen der Welt viele Menschen ihre Arbeit verloren. Also: Es gibt neue Probleme, die die Welt gefährlich und unsicher machen.
Was sehen Sie als die größte Bedrohung an, der die Menschen heute und auch noch in Zukunft ausgesetzt sind?
Erstens die Umweltthematik. Wenn wir nicht lernen, die Umwelt vorsichtig zu behandeln, werden wir in den nächsten 50, 100 Jahren gewaltige Probleme haben. Das Zweite: Es gibt immer noch riesige Unterschiede zwischen armen und reichen Teilen der Welt und dadurch entsteht eine gefährliche Spannung zum Beispiel mit Afrika oder Bereichen Asiens. Und das Dritte ist, dass wir mehr Toleranz den Menschen entgegenbringen müssen, die anders sind, die andere Religionen, Hautfarben, Kulturen und andere Sprachen haben. Wir müssen lernen, friedlich und ohne Vorurteile zusammenzuleben. Wir müssen lernen, dass die Welt kleiner und viel integrierter geworden ist. Wenn wir das nicht schaffen, wird dies zu einer großen Bedrohung unserer Zukunft.
Sie sprachen von einer friedlichen Welt. Bitte setzen Sie den Satz fort: Der Afghanistan-Krieg ist...
...mit dem Problem des Weltterrorismus eng verbunden.
Ihre Memoiren liegen nun vor. Welche Botschaft liegt Ihnen besonders am Herzen?
Dass viel davon abhängt, wer die Hand an den Hebeln der Macht hat. Dass die Persönlichkeiten in Führungspositionen und auch darunter in diesem Sinne wichtig sind. Die Botschaft besagt aber auch, dass die Qualitäten, die für ein positives Handeln notwendig sind, leider oft wie Mangelware wirken. Doch kann der Einzelne an den Hebeln der Macht entscheidend dazu beitragen, die Geschichte auf einen guten Weg zu leiten.