Essen.
Hans-Dietrich Genscher hält nichts von der Sichtweise, die Wiedervereinigung sei ein bloßer „Anschluss“ der DDR an die Bundesrepublik gewesen. Die DDR-Volkskammer habe frei entschieden und das auch noch richtig. Ein Interview mit dem damaligen Außenminister.
Herr Genscher, als Sie 1952 aus Halle in den Westen kamen – haben Sie damals geglaubt, dass die Wiedervereinigung noch zu Ihren Lebzeiten kommen würde?
Genscher: Ich habe es nicht nur gewünscht, sondern ich war davon überzeugt. Allerdings erwartete ich damals, dass sie schon früher kommen würde als geschehen.
Zu welchem Zeitpunkt und aufgrund welcher politischen Entwicklungen haben Sie gespürt, dass es eine Chance zur Einheit geben würde?
Genscher: Die konzeptionslose Reaktion des Westens, auch der damaligen Regierung Adenauer, auf den Bau der Mauer hat mich tief enttäuscht. Die Ostvertragspolitik der Regierung Brandt/Scheel war für mich der einzig erkennbare Weg, aus der Sackgasse des Stillstands in der West-Ost-Politik herauszukommen. Die Schlussakte von Helsinki krönte die deutsche Ostpolitik und bahnte den Weg zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas. Es war kein einfacher Weg. Er verlangte außenpolitisch sehr viel Kraft und Geduld im Umgang mit Moskau und Ostberlin und er verlangte innenpolitisch das Überwinden des Widerstandes von CDU und CSU gegen unsere Außen- und Entspannungspolitik. Gorbatschow war für mich das Signal für eine grundsätzliche Veränderung der sowjetischen Politik. Deshalb rief ich dazu auf, ihn ernst zu nehmen, ihn beim Wort zu nehmen, eine historische Chance nicht zu versäumen. Die Kritik vor allem in den USA und in England, aber auch in Deutschland an meinen Äußerungen zeigte altes Denken und Mangel an politischer Urteilsfähigkeit.
Es gab nur ein schmales Zeitfenster
War Ihnen bewusst, dass sich für den Prozess der Einheit ein Zeitfenster aufgetan hatte, welches vielleicht ein Jahr nicht überdauert hätte?
Genscher: Ja. Deshalb waren wir an schnellen Verhandlungen im Rahmen der 2+4-Außenministerkonferenzen interessiert. Die erste fand am 5. Mai 1990 in Bonn statt, die vierte und letzte am 12. September 1990 in Moskau. Dass unsere Besorgnisse nicht unbegründet waren, zeigte der Putschversuch im Herbst 1991 in Moskau.
Haben Sie die Aufforderung, Gorbatschow „beim Wort zu nehmen“ mit Blick auf die atomare Abrüstung formuliert – oder zeichnete sich für Sie ein grundlegender Wandel der europäischen Nachkriegsordnung ab?
Genscher: Beides. Der Begriff vom gemeinsamen europäischen Haus signalisierte den Willen Moskaus, die europäische Spaltung zu überwinden. Die Gespräche zwischen Gorbatschow und Präsident Reagan bewiesen Gorbatschows und Reagans Absicht zur Überwindung der nuklearen Konfrontation.
Die DDR war 1989 bankrott
Die Freude über die Einheit wurde bei vielen Ostdeutschen getrübt durch den Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft mit seinen Folgen für die Menschen. Ging das alles zu schnell?
Genscher: Nein. Aber die DDR war nach DDR-Feststellungen im Herbst 1989 bankrott.
Manche behaupten, statt einer gleichberechtigten Vereinigung der beiden deutschen Staaten habe es einen „Anschluss“ der DDR an die Bundesrepublik gegeben. Hatte eine verfassungsgebende Versammlung nach Art. 146 GG je eine Chance?
Genscher: Nicht die Bundesrepublik, sondern die erste frei gewählte Volkskammer hat in freier Entscheidung den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Diese souveräne Entscheidung sollte niemand herabsetzen. Sie war im Übrigen auch richtig.
Sie haben damals gesagt, nichts werde nach der Einheit Deutschlands mehr so sein wie es mal war. Was haben Sie damit gemeint?
Genscher: Dass die Einheit Deutschlands die Einheit Europas bedeutet; dass der kalte Krieg beendet sein wird und dass wir in eine neue geschichtliche Epoche eintreten – die Globalisierung.
Wir wollten Werkbänke, nicht nur Ladentische
Was ist beim Vereinigungsprozess falsch gelaufen?
Genscher: Die FDP war damals für die steuerliche Förderung der Wertschöpfung im Osten. Dann wären – bildlich gesprochen – nicht nur neue Ladentische im Osten aufgestellt worden, sondern auch neue Werkbänke. Aber weder unser damaliger Koalitionspartner noch die Opposition unterstützte uns.
Nach einem Wort Thomas Manns haben Sie ein „europäisches Deutschland“ und kein „deutsches Europa“ gewünscht. Wie sieht heute die Rolle Deutschlands in Europa aus?
Genscher: Wie in der Vergangenheit, so tragen wir auch in Zukunft als Land in der Mitte eine besondere Verantwortung für den Einigungsprozess. Europa ist unsere Zukunft. Wir haben keine andere. Wer vermeintliche deutsche Interessen in Gegensatz zu europäischen stellt, hat aus der Geschichte nichts gelernt.