Ankara. .

Kaum haben die türkischen Wähler in einer Volksabstimmung grünes Licht für eine Reform ihrer Verfassung gegeben, da machen einige bereits die Probe aufs Exempel: eine Gruppe türkischer Intellektueller und Politiker erstattete am Montag bei der Staatsanwaltschaft Istanbul Anzeige gegen Kenan Evren.

Als Generalstabschef war Evren am 12. September 1980 Anführer des Staatsstreichs der Militärs. Bisher schützte ihn der Übergangsartikel 15 der Verfassung vor Strafverfolgung, doch dieser Passus wurde mit der jetzt gebilligten Reform ersatzlos gestrichen.

Jetzt muss sich der 93-jährige General a. D. womöglich auf ein Strafverfahren einstellen. 58 Prozent der Wähler billigten am Sonntag die von der islamisch-konservativen Regierung zur Abstimmung gestellten Verfassungsänderungen. Sie stärken die Rechte von Frauen, Kindern und Behinderten, verbessern den Datenschutz, beschneiden die Macht der Militärgerichte, erschweren Parteienverbote und geben dem Parlament mehr Einfluss bei der Berufung der obersten Richter.

Erdogans Gegner sehen darin den Versuch einer Gleichschaltung der regierungskritischen Justiz. Die Regierung hingegen sagt, mit der Reform werde die Gewaltenteilung gestärkt.

Die Änderungen sind nur ein erster Schritt. Das Verfassungsreferendum öffnet die Tür für eine große Staatsreform. Für die nächste Legislaturperiode hat Premierminister Tayyip Erdogan bereits eine gänzlich neue Verfassung angekündigt. Sie soll das 1982 unter der damaligen Militärdiktatur konzipierte „Grundgesetz der Generäle“ ersetzen. Erdogans Chancen, bei den spätestens im Juli 2011 fälligen Parlamentswahlen für eine dritte Amtszeit bestätigt zu werden, sind nach dem gewonnenen Referendum deutlich gestiegen.

Schon wird darüber spekuliert, ob der Premier 2012 die Nachfolge des dann ausscheidenden Staatspräsidenten Abdullah Gül antreten werde – und vielleicht vorher mit der geplanten großen Verfassungsreform ein Präsidialsystem nach US-amerikanischem oder französischem Vorbild einführen will. Das gäbe ihm eine größere Machtfülle.

Erdogans Gegner sind beunruhigt. Sie warnen, wieder einmal, vor der angeblichen „geheimen Agenda“ des gewendeten Fundamentalisten, der an einer schleichenden Islamisierung der Türkei arbeite. Greifbare Beweise für solche Absichten hat Erdogan in seinen mehr als sieben Regierungsjahren allerdings bisher nicht geliefert.

Doch der Türkei steht mit der geplanten Verfassungsreform eine intensive Debatte bevor, die das Land in den kommenden Jahren weiter polarisieren dürfte. Es geht um nicht weniger als einen Umbau des vom Republikgründer Atatürk vor fast neun Jahrzehnten errichteten Staatsgefüges. Dabei werden auch Themen auf die Tagesordnung kommen, die bisher als Tabu galten, wie die Frage nach einer föderalen Struktur der zentralistischen Türkei. Hier könnte ein Schlüssel zur friedlichen Lösung des Kurdenkonflikts liegen.

Erdogan selbst spricht bereits von „Veränderungen von historischer Bedeutung“, die auf das Land zukommen. Nach seinem unerwartet klaren Erfolg bei der Volksabstimmung spielt er mehr denn je die Hauptrolle auf der politischen Bühne. Wie der Reformprozess verläuft, wird aber nicht nur von ihm abhängen, sondern auch davon, ob die türkischen Oppositionsparteien ihre starre Verweigerungshaltung aufgeben und sich in die Debatte einbringen. Seine Partei respektiere den Willen der Wähler und habe mit dem Referendum eine „Lektion“ gelernt, sagte der kemalistische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu.