Essen. .

Eine Hand liegt auf der Bügelfalte der Anzugshose. Der Ring mit grünem Stein schmückt die klar lackierten Finger. Die andere Hand kramt eine Zeitung aus der schwarzen Tasche. Die junge Frau mit dem blonden Haarknoten blättert, bis sie auf der Lifestyle-Seite hängen bleibt. Kurz zuvor saß noch eine ältere Frau auf ihrem Platz, die ihren leeren Blick geradeaus richtete und schließlich ächzend im blauen Untergrundlicht der Station Hauptbahnhof die Bahn verließ.

Die Straßenbahn Linie 107 pendelt zwischen Essen-Bredeney und dem Gelsenkirchener Hauptbahnhof. Sie offenbart die tiefen Gräben, die den reichen Süden Essens vom armen Norden trennen. Gräben, die allenfalls von den Touristen überwunden werden, die sich die Mühe machen, die Kulturhauptstadt per Bahn zu erkunden.

Zu Beginn der Fahrt, in Gelsenkirchen, kutschiert die Fahrerin eine Handvoll älterer Fahrgäste durch breite, aber ruhige Straßen, vorbei an dem ebenso leeren wie riesigen Parkplatz der Trabrennbahn, über die Essener Stadtgrenze hinaus, wo die Hinterhöfe der schwarz gerußten Zechenhäuser Wäsche, Dreirädchen, weiße Plastikstühle oder Winterreifen aufnehmen.

„Hier möchte ich nicht wohnen“

Ein Mann auf einem Klapprad fährt seit einer Weile neben der 107 her. Auf dem Gepäckträger weicht im Re­gen ein Pappkarton auf. Die Bahn fährt an Internet-Cafés vorbei, an Sonnenstudios, Kulturvereinen, Nähstuben. Als sie die Kulisse der Zeche Zollverein passiert, ergießt eine junge Frau lautstark einen türkischen Redeschwall in ihr Handy, unterbrochen von den deutschen Worten „Ausländerbehörde” und „Besuchervisum beantragen”. Ein Mann dreht aus den letzten Krümeln seines Tabaks eine Zigarette. Als er aussteigt, bleibt der leere Beutel auf dem Sitz zurück.

Eine grauhaarige Frau mit markanter Brille blickt aus dem Fenster. „Hier möchte ich nicht wohnen”, sagt sie zu ihrem Begleiter, der einen Reiseführer aus der Jacke zieht. „Eben sind wir am Triple Z vorbeigefahren”, sagt er und liest: „Der Standort der Kreativwirtschaft.”

Je näher die Innenstadt rückt, desto voller wird die Bahn: Zwei Frauen steigen ein. Ihre Fingernägel ragen lang und weiß über die Fingerkuppen hinaus. Jede trägt einen Zopf – weißblond am Oberkopf und schwarz im Nacken. Eine schmale Frau sitzt gegenüber. Ihre Hände umschließen den Griff der braunen Kunstlederhandtasche so fest, dass die Gelenkknochen weiß herausragen.

Alte Villen, Feinkostläden und Boutiquen

Als am Hauptbahnhof alle bis auf das Touristenpärchen und einen alten, graubärtigen Mann, dessen Finger die Perlen eines Rosenkranzes abtasten, aussteigen, wechselt die ruhige, ein wenig triste Szenerie. Anzugsträger, Frauen mit Einkaufstüten aus Karton, Teenager, Mütter mit Kinderwagen, Senioren mit Gehhilfe bevölkern nun die 107, die eine Weile im Untergrund fahren wird. Zwei vielleicht 20-jährige braunhaarige Mädchen lachen, erzählen von den Partys am Wochenende, prahlen mit Müdigkeit, mangelhaften Anatomie-Kenntnissen und Prüfungsangst.

Die Bahn ruckelt inzwischen durch die Bredeneyer Straße, vorbei an alten Villen, die Feinkostläden, Weinhandlungen, Parfümerien, Boutiquen beherbergen. Schließlich sitzt neben den kichernden Mädchen nur noch ein knappes Dutzend Menschen im Waggon. Frauen in Hosenanzügen oder Kostümen, Männer, auf deren Hemden und Polos die bekannten Modelabels prangen. Es regnet. Einige Fahrgäste wollen die stark befahrene Alfredstraße passieren. Ein Jaguar fährt durch eine Pfütze, das Wasser spritzt an den Hosenbeinen der Teenager hoch. Die lachen. Am Steuer sitzt ein älterer Herr, die Haare ebenso silbergrau wie seine polierte Limousine.


Die soziale Schere öffnet sich

Der aktuelle Sozialbericht für NRW spricht von einer „sehr ungleichen“ Verteilung der Vermögen der privaten Haushalte. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter.

Demnach weisen die aktuellsten Zahlen, die aus dem Jahr 2007 stammen, 14,3 Prozent der Bevölkerung als armutsgefährdet aus. Das Risiko, in die Armut abzurutschen ist seit 1996 um rund zwei Prozentpunkte gestiegen. Als armutsgefährdet gelten Einzelpersonen, die weniger als 615 Euro verdienen. Bei Familien mit zwei Kindern liegt die Grenze bei 1661 Euro.

Gleichzeitig leben in NRW gut 2500 Einkommens-Millionäre. Insgesamt gelten 1,37 Millionen Haushalte (das entspricht 16,5 Prozent aller Haushalte) in NRW als „vermögensreich“. Das heißt, das Nettovermögen beträgt mindestens 220 000 Euro. Durchschnittlich liegt das Nettovermögen in dieser Gruppe bei 434 800 Euro.

„Der Abstand zum Vermögen der nicht reichen Haushalte ist größer geworden“, heißt es im Sozialbericht. Während das Durchschnitts-Vermögen der reichen Haushalte seit 1998 um 17,5 Prozent stieg, sank das Vermögen der nicht reichen Haushalte im gleichen Zeitraum um 2,5 Prozent.