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Was wird aus der SPD? Der Parteienforscher und SPD-Experte Franz Walter zeichnet in seinem jüngst erschienenen Buch „Vorwärts oder abwärts?“ ein zwiespältiges Bild. Der Abstieg der deutschen Sozialdemokratie hat für Walter schon mit der Ölkrise 1973 begonnen.
Die SPD ist im Keller - vor allem bei den kleinen Leuten. Bei dem Wahldebakel 2009 verlor sie allein bei den Arbeitslosen und Arbeitern ein Viertel der Wähler. „Die Sozialdemokraten hatten in den elf Jahren ihrer Regierungszeit das Vertrauen gebrochen, das gerade die unteren Schichten ihnen 1998 noch entgegengebracht hatten“, schreibt der Politologe Franz Walter in seinem jetzt erschienenen Buch „Vorwärts oder abwärts? Zur Transformation der Sozialdemokratie“.
Der Abstieg der Sozialdemokratie habe bereits 1973 begonnen, als der Nachkriegsboom mit seinen historisch einzigartigen wirtschaftlichen Wachstumsraten versiegte. Als die SPD 1966 zunächst als Juniorpartner in der Großen Koalition in die Regierung kam, konnte sie noch wohlfahrtsstaatliche Sahnehäubchen auf das christdemokratische Konsensmodell setzen. Die Schlote rauchten, die Geschäfte der Unternehmen liefen wie geschmiert. Anfang 1973 habe der frisch wiedergewählte Bundeskanzler Willy Brandt eine Bilanz sozialdemokratischen Stolzes auf Vollbeschäftigung, Einkommenssteigerung und soziale Sicherheit ziehen können.
„Die Sozialdemokraten sind Parteien des öffentlichen Dienstes geworden“
Der Ölpreisschock im Herbst 1973 veränderte nach Auffassung von Walter die Republik und läutete die lange Depression der deutschen Sozialdemokratie ein. Steigende Arbeitslosigkeit durch Pleiten etlicher Traditionsfirmen ließen ganze Arbeitergruppen vom Markt verschwinden. „Die alte, berufsstolze, disziplinierte, selbstbewusste, zukunftsoptimistische, kulturell ambitionierte Arbeiterklasse verließ die Bühne“, so Walter. Sie spaltete sich auf in die zur Apathie neigenden Verlierer und die Gewinner, die Aufstiegschancen im öffentlichen Dienst und in neuen ökonomischen Sektoren suchten.
Die SPD rekrutierte in der Folgezeit ihre Mitglieder vornehmlich aus diesen Aufsteigern. „Die europäischen Sozialdemokraten sind Parteien des öffentlichen Dienstes geworden. Kaum noch jemand aus den Parteieliten entstammt unmittelbar der Arbeiterschaft.“ Und das Führungspersonal suchte angesichts des rauer werdenden sozialen Klimas hilflos nach einer neuen Marschrichtung. Walter: „Die Improvisation wurde zum Politikstil sozialdemokratischer Bundeskanzler von Helmut Schmidt bis Gerhard Schröder.“
Vor allem in der Ära Schröder sei die Entfremdung von den ökonomischen Verlierern exemplarisch zu Tage getreten. Der zur Schau getragene teure Brioni-Anzug sei beispielsweise Ausdruck des krampfhaften Abgrenzens von denen da unten. „Freie Bahn den Tüchtigen – das war die Devise der individuellen Aufsteiger um Schröder & Co.“ Mit der Agendapolitik von Schröder habe sich die SPD nicht mehr als politische Arbeiterwohlfahrt hilfloser kleiner Leute wahrgenommen, sondern auf die aufgestiegenen Leistungsträger gesetzt.
Einhergehend damit sei die Debattenkultur innerhalb der Sozialdemokratie zu würdelosen Akklamationsinszenierungen für die Partei und Regierungsmitglieder verkommen. Und das Parteivolk habe dazu noch brav applaudiert. „Die Parteitagsdelegierten jubelten, die Mitglieder freuten sich, wenn ihr zweimaliger Parteivorsitzender Müntefering im apodiktischen Stakkato den offensichtlichen Blödsinn skandierte: ,Fraktion ist gut, Partei auch. Glück auf’. Währenddessen verlor die Republik eine ihrer beiden Volksparteien“, schreibt Walter und wundert sich, dass der Biedermann Müntefering mit einem Mal zur Heilsfigur und Erweckungsgestalt der deutschen Sozialdemokratie stilisiert wurde.
„In die von den Sozialdemokraten verlassene Welt der sozialen Untergeschosse drang dafür seit 2005 die neue Partei Die Linke ein.“
Energien von einst sind erlahmt
Nach Auffassung von Walter müsse jetzt die SPD zunächst anerkennen, dass sie seit dem Erstarken der Linkspartei nicht mehr allein das politische Spektrum links von der Mitte repräsentiere. Überdies sollten die Genossen den „entwertenden Umgang“ mit den eigenen Mitgliedern und Anhängern überdenken. In der Ära Schröder-Müntefering-Steinmeier habe man die Spitzenjobs in der Partei in ostelbischer Gutsherrenart vergeben. Walter schlägt vor, dass SPD-Kandidaten künftig durch das „Säurebad eines großen demokratischen Nominierungsprozesses“ gehen müssten.
Jedoch nützten alle Organisationsreformen und neuen Leute an der Spitze nichts, wenn die Klarheit über den weiteren politischen Kurs fehle. „Will die SPD die linke Volkspartei der mittleren und unteren Schichten bleiben bzw. wieder werden“, fragt Walter, „oder will sie als Partei der neuen Mitte den Schwerpunkt auf Arbeitnehmer mit Qualifikationsehrgeiz legen?“ Bei diesem Klärungsprozess könne man gleich auch den „merkwürdigen Antiintellektualismus“ der letzten Jahre überwinden und sich wieder für Vor- und Querdenker öffnen. Selbst die CDU habe sich zuletzt mehr Rat von unabhängigen Köpfen gesucht als die Planer und Strategen der Sozialdemokratie, die sich offensichtlich selbst genügten.
Ganz gleich was die Genossen auch anstellen sollten, ist ihre große Zeit nach Auffassung von Walter aber sowieso vorbei. Denn mit den Annehmlichkeiten des Sozialstaats im 20. Jahrhundert seien auch die sozialdemokratischen Energien von einst erlahmt. Selbst einige Prozentpunkte bei Wahlen mehr oder ein paar zusätzliche SPD-Ministerpräsidenten seien nicht als große Renaissance zu werten. „Man sollte nicht unbedingt damit rechnen, dass das 21. Jahrhundert ein sozialdemokratisches sein wird.“ Ein bitterer Schlusssatz eines SPD-Experten, für den die Willy-wählen-Zeiten offensichtlich das Größte waren. Daran misst er die SPD und das ist sein Fehler. Daher muss der Enttäuschte auch nicht Recht behalten.
Franz Walter: Vorwärts oder abwärts? Zur Transformation der Sozialdemokratie. Edition Suhrkamp 2010, 142 Seiten, 12 Euro.