Tel Aviv. .
Es war eine kleine Flotte, die gestern früh versucht hatte, die Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen. 10 000 Tonnen Hilfsgüter sollten an die verarmte Bevölkerung verteilt werden, aber die Fahrt übers Meer endete in einer Katastrophe.
Der Zwischenfall mit der „Solidaritätsflotte“ entwickelte sich gestern zu einer diplomatischen Krise, in der die meisten Staaten Israel scharf für das Blutbad auf dem Flaggschiff „Marmara“ kritisierten. Auch im israelischen Inland und an den Grenzen drohen nun Unruhen. Der Friedensprozess in Nahost könnte erneut stocken, nachdem Palästinenser und Israelis erst vor wenigen Wochen wieder indirekte Gespräche miteinander aufgenommen haben.
Am härtesten reagierte gestern die Türkei, unter deren Flagge das Schiff fuhr, auf dem sich die blutigen Ereignisse abspielten und auf dem sich viele türkische Bürger befanden. Sie zog ihren Botschafter aus Israel ab. Der türkische Premier Recep Erdogan brach seine Südamerika-Reise ab. Aus Ankara hieß es, der Zwischenfall habe „irreparable Schäden“ verursacht. Die Regierung forderte eine Sondersitzung des Weltsicherheitsrats.
Hinter dem Hilfstransport steht die islamische Organisation IHH. Sie war anlässlich des Krieges in Bosnien gegründet worden, hatte dann islamische Kämpfer in Tschetschenien unterstützt und konzentrierte sich in den letzten Jahren auf Palästina. Angeblich hat die Organisation gute Beziehungen zur Hamas. Weil es ihr nicht gelang, für die Aktion Schiffe zu chartern, hat sie kurzerhand zwei Frachter gekauft, einer von ihnen ist die „Marmara“.
Israel wollte gestern den Schaden begrenzen. Die Soldaten seien an Bord fast gelyncht worden und hätten geschossen, um ihr Leben zu retten, sagte Verteidigungsminister Ehud Barak. Man habe Gewalt vermeiden wollen, sagte Barak und wies darauf hin, dass fünf der Schiffe ohne Zwischenfälle aufgebracht worden seien. Marine-Kommandant Eli Marom sagte, man habe den Einsatz wochenlang geprobt. Aus ersten Berichten erwächst jedoch der Eindruck, dass die Armee unzureichend vorbereitet war. Laut ersten Presseberichten hatte eine Spezialeinheit der Polizei, die auf den Umgang mit Zivilisten spezialisiert ist, es abgelehnt, das Schiff zu stürmen. Die Soldaten kennen aber hauptsächlich den Umgang mit Schusswaffen.
Um 4.23 Uhr morgens seilten sich die Elitesoldaten der Flottille 13 von Hubschraubern aufs Deck ab. Sie hatten Anweisung, ihre Schusswaffen nur im äußersten Notfall einzusetzen.
Messer und Eisenstangen
Um Schusswechsel zu vermeiden, waren sie mit Paintballgewehren ausgerüstet, die Farbkugeln verschießen. Zusätzlich trug jeder Soldat eine Pistole. Auf Bildern, die die Armee veröffentlichte, war zu sehen, dass der Empfang an Bord nichts mit dem „gewaltlosen Widerstand“ zu tun hatte, den die Organisatoren des Konvois angekündigt hatten. Kleine Gruppen von Aktivisten stürzten sich auf jeden Soldaten, der an Deck landete, und traktierten sie mit Messern, Eisenstangen und schossen aus Schleudern Glasmurmeln. Ferner sollen Aktivisten den Soldaten Handfeuerwaffen entrissen und mindestens zwei Magazine leer geschossen haben. Mehrere Soldaten sollen dabei verletzt worden sein, einer davon schwer durch eine Schusswunde. „Ich schoss, weil ich um mein Leben fürchtete“, sagte ein Soldat im israelischen Fernsehen.
Oppositionsführerin Tzippi Livni äußerte keine Kritik an der Aktion. Dies sei die Zeit, sich geschlossen hinter die Soldaten zu stellen, die sich verteidigt hätten. Arabische Knesset-Abgeordnete hingegen verurteilten die Aktion scharf: „Man muss nicht Deutscher sein, um Nazi zu sein.“
In der Türkei versuchten Demonstranten, das israelische Konsulat in Istanbul zu stürmen. Israel riet seinen Bürgern, ihren Urlaub in der Türkei abzusagen oder ihre Hotelzimmer nicht zu verlassen. Auch im Inland wurden Polizei und Rettungsdienste in Alarmbereitschaft versetzt, nachdem es an mehreren Stellen zu spontanen Demonstrationen arabischer Bürger kam.
In Gaza verurteilte Hamas-Premier Ismail Haniyeh die „israelische Piraterie“. Seine Regierung erklärte den 31. Mai zum Feiertag. „Freiheitsliebende aus aller Welt werden sich um das Blut der Märtyrer auf dem Schiff scharen“, sagte Hamas-Funktionär Mahmud a Sahar und versprach: „Dies war nur der erste von vielen Konvois, die die Blockade durchbrechen werden.“