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Die Arbeit im selben Betrieb kann künftig unterschiedlich bezahlt werden. Das Bundesarbeitsgericht hat die seit den 50er Jahren praktizierte Tarifeinheit gekippt. Das bedeutet, dass in einem Betrieb mehrere Tarifverträge gelten können.

Die Tarifeinheit wird bald Vergangenheit sein. Das Bundesarbeitsgericht hat eine Entscheidung von größter Tragweite getroffen. Großgewerkschaften und Ar­beitgeber befürchten nun eine Zersplitterung der Tariflandschaft. Den DGB-Gewerkschaften droht mehr Kon­kurrenz durch neue Spartengewerkschaften, den Ar­beitgebern drohen häufigere Arbeitskämpfe. „Die Tarifeinheit hat Schmutzkonkurrenz und eine Spaltung der Belegschaften verhindert“, sagte Jens Schubert, Rechtsexperte der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, dieser Zeitung. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt warnte: Wenn in Betrieben ständige Arbeitskämpfe befürchtet werden müssten, drohten „englische Verhältnisse wie in den 70er Jahren“, die zu einer De-Industrialisierung geführt hätten.

Bisher galt das Prinzip, dass in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag gelten darf. Allerdings stand die Tarifeinheit in keinem Gesetz, sondern war nur eine seit Jahrzehnten ausgeübte Rechtspraxis des Bundesarbeitsgerichts. Sie sollte für einheitliche Arbeitsbedingungen sorgen. Dem steht das Grundrecht des Einzelnen auf Koalitionsfreiheit gegenüber. Ein Kläger im vorliegenden Fall etwa ist Mitglied der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, erhielt aber die tariflich erstrittenen Urlaubszuschläge nicht, weil in seiner Klinik der Verdi-Tarifvertrag den des Mar­burger Bundes verdrängt hatte. Jetzt entschied das BAG, es gebe keinen „Grundsatz, dass für verschiedene Arbeitsverhältnisse derselben Art in einem Betrieb nur einheitliche Tarifregelungen zur Anwendung kommen können.“

Arbeitgeber und DGB ha­ben bereits eine Gegeninitiative gestartet. Sie fordern, die Tarifeinheit per Gesetz wieder einzuführen. Dann solle grund­sätzlich der Tarifvertrag jener Gewerkschaft gelten, die in einem Betrieb die meisten Beschäftigten vertritt.

Ein Betrieb, ein Tarifvertrag. Das galt in Deutschland seit mehr als fünf Jahrzehnten – bis gestern. Es war ein vom Bundesarbeitsgericht (BAG) gedeckter Ordnungsgrundsatz, der verhindern sollte, dass Beschäftigte in einem Betrieb zu unterschiedlichen Bedingungen arbeiten. Damit ist nun Schluss: Die höchsten Arbeitsrichter haben die Freiheit des Einzelnen, sich seine Gewerkschaft aussuchen zu können, über die bisherige Rechtsprechung gestellt, die eher praktischer denn streng juristischer Natur war. Im Zweifel, also wenn es tatsächlich mehrere Tarifverträge gab, verdrängte bisher der speziellere den oder die anderen. Damit konnten sich im vergangenen Jahrzehnt bereits einige Spartengewerkschaften ihre Räume erobern: Wo Piloten, Lokführer und Ärzte eigene Tarifverträge erstritten, wa­ren die für ihre Berufsgruppen natürlich spezieller als für die Gesamtbelegschaften etwa der Lufthansa oder der Bahn. So verdrängten sie die Flächentarife von Verdi oder Transnet – allerdings nur für ihre Berufsgruppe.

Das Ende der Tarifeinheit könnte mehrere Folgen ha­ben, hier die wichtigsten:


Die Gründung von Spartengewerkschaften wird leichter. Die Pilotengewerkschaft Cock­pit oder die Lokführergewerkschaft mussten jahrelang kämpfen, bis sie als Tarifpartei anerkannt wurden. Diese Hürde fällt weg, was viele Berufsgruppen ermuntern könnte, eigene Gewerkschaften zu gründen. Das ist freilich nur dann Erfolg versprechend, wenn sie mit ihrer Unersetzbarkeit drohen können. Werksfeuerwehren könnten das, IT-Spezialisten ebenso. Der Verband deutscher Ingenieure etwa könnte eine Gewerkschaft gründen.

Interessant wird dies immer dort, wo viele Berufsgruppen in einem Betrieb arbeiten. Be­sonders betroffen ist deshalb die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. „In einem Krankenhaus müssten wir allen Berufsgruppen hinterher laufen“, sagt Rechtsexperte Jens Schubert, „Elitegruppen wie die Ärzte können mit weniger Leuten natürlich mehr erreichen“. Als nächstes sonderten sich womöglich die OP-Schwestern ab. „Was dabei verloren geht, ist die Solidarität in der Belegschaft. Die Beschäftigten werden gegeneinander ausgespielt.“

Auch um dieselbe Berufsgruppe können mehrere Gewerkschaften buhlen. Das ge­schieht längst, vor allem durch Christliche Gewerkschaften. Al­lerdings werden deren Chancen eher schlechter, weil ihnen die Verhandlungsmacht fehlt. Die Christlichen kommen oft mit arbeitgeberfreundlichen Haustarifverträgen zum Zuge. Die sind spezieller als die Flächentarife der großen IG Metall und verdrängen sie. Deshalb ist die IG Metall, ganz anders als Verdi, eher froh über die BAG-Entscheidung. „Dadurch ist es nicht mehr ohne weiteres möglich, Dumping-Tarifverträge abzuschließen, die Flächentarife der IG Metall aushebeln“, sagt Sabine Maaßen, Juristin der IG Metall.

Theoretisch stünden künftig Kollegen nebeneinander, die mit der gleichen Arbeit unterschiedlich viel verdienen und womöglich mehr oder weniger Urlaubstage haben. Da die größte deutsche Einzelgewerkschaft mächtig genug ist, bessere Abschlüsse zu erzielen, könnte ihr der neue Wettbewerb sogar zusätzliche Mitglieder bescheren.

Einhellig ist die Kritik an der BAG-Entscheidung nur unter den Arbeitgebern. Sie befürchten, es künftig mit mehreren Tarifgegnern auf einmal aufnehmen zu müssen und von einem Arbeitskampf in den nächsten zu rutschen. Nebenbei droht noch ein Überbietungs-Wettlauf konkurrierender Gewerkschaften. Deshalb fordern sie – gemeinsam mit dem DGB – ein Gesetz, das die Tarifeinheit wieder einführt.

Die Gewerkschaften sitzen mit im Boot, weil die neue Tarifeinheit nicht mehr den spezielleren Verträgen den Vorrang geben soll, sondern denen, die für die meisten Beschäftigten gelten. Davon würden die Großgewerkschaften profitieren. Cockpit hat allerdings angekündigt, gegen ein solches Gesetz vors Verfassungsgericht zu ziehen.