Port-au-Prince. .

Im den vergangenen Jahren gab es sogar so etwas wie einen Lichtblick in Haiti. Mit der Präsenz der UN-Mission Minustah seit 2004 verbesserte sich die Regierungsfähigkeit und verringerte sich die Bandengewalt. Es habe zum ersten Mal so etwas wie ein „positives Klima“ gegeben, berichten Entwicklungshelfer. Brasilien und Taiwan dachten sogar über erste Investitionen nach.

Aber das Beben vor einer Woche hat Haiti um hundert Jahre zurückgeworfen und alle vorsichtigen Ansätze unter sich begraben. Aus einem scheiternden Staat wurde ein untergehender Staat. Und wenn die internationale Gemeinschaft nicht rasch und massiv handelt, sterben die neun Millionen Haitianer einfach in den Trümmern ihres Landes oder werden zu Hunderttausenden versuchen, zu ihren Angehörigen nach Miami, New York, Montreal oder Paris zu gelangen.

Haiti braucht einen Marshallplan, ein Wiederaufbauprogramm historischer Dimensionen, wie es die USA nach dem Zweiten Weltkrieg Europa verordnet hatte. Die Inselrepublik braucht Geld, Kredite, Infrastrukturhilfe, Beratung, Manpower. Wer dieser Tage durch das Elend und die kriegsähnliche Zerstörung der Hauptstadt Port-au-Prince fährt, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Stadt und damit das ganze Land von Grund auf neu erfunden werden müssen.

Selbst in diesen knappen Zeiten scheint Geld dafür da. Europa gibt 420 Millionen Euro, die Vereinigten Staaten stellen 100 Millionen Dollar bereit. Und die Menschen in aller Welt spenden angesichts der dramatischen Fernsehbilder noch einmal hunderte Millionen Euro.

Der Irak-Krieg kostet im Monat mehr als zehn Milliarden Dollar und der Konflikt in Afghanistan 3,5 Milliarden. Wenn die Welt nur ein Jahr lang dieses Geld für das karibische Armenhaus bereitstellen würde, könnte die Situation in dem Land nachhaltig verbessert werden. Die 400 Mio. Dollar, die bisher für die UN-Mission mit 10.000 Soldaten, Polizisten und Aufbauhelfern ausgegeben wurden, werden bei weitem nicht reichen.

Manchmal vergisst man, dass in Haiti auch schon vor dem Jahrhundertbeben gestorben wurde. Im Armenhaus der westlichen Welt verhungern seit Jahren Menschen, sterben an behandelbaren Krankheiten oder an AIDS. Doch bis zum 12. Januar geschah das weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Nur Karibik-Kenner wussten, dass Haiti die kleine und hässliche Schwester der Dominikanischen Republik ist. Während im Osten der Insel Hispaniola Tourismus und Wirtschaft blühen, gedeihen im Westen nur Elend und Hoffnungslosigkeit. Nicht nur, weil 95 Prozent der Bevölkerung schwarz sind, wirkt Haiti immer wie ein Stück Afrika in Lateinamerika.

Politische Instabilität, Umstürze und US-Interventionen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Landes, das 1804 als erstes in Lateinamerika die Fesseln der Kolonialisten abwarf. Allein seit Diktator Jean-Claude „Baby Doc“ Duvalier 1986 ins Exil floh, hat Haiti dreizehn Präsidenten verschlissen. Kaum einer erreichte das Ende seines Mandats, manche regierten nur Tage. Wirtschaftliche Aktivität gibt es faktisch nicht. Es werden ein paar Jeans für die USA zusammengenäht und Mangos oder Kaffee in kleinen Mengen exportiert.

Auf dem UN-Entwicklungsindex findet sich die Inselrepublik auf Platz 149 von 182 Staaten. Schlechter geht es den Menschen nur in Ländern wie Liberia oder Sierra Leone. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen liegt bei rund 600 Dollar und damit fast fünf Mal niedriger als in der benachbarten Dominikanischen Republik. Es gibt kaum befestigte Straßen und nur sporadisch Strom. Die Rate der HIV-Infektionen ist lediglich in afrikanischen Ländern höher als in Haiti. Die Lebenserwartung liegt bei 53 Jahren. Jeder zweite der neun Millionen Haitianer kann nicht Lesen und Schreiben. Ohne die Hilfe der internationalen Gemeinschaft und den 1,3 Milliarden Dollar, die Auslands-Haitianer überweisen, stürben Hunderttausende den Hungertod.

Die internationale Gemeinschaft, vor allem die USA, kam immer dann, wenn es brannte. Man löschte die Flammen, aber nicht die Glut und zog wieder ab oder wurde von den Haitianern vertrieben, die einen starken Nationalismus frönen und ihre Probleme eigentlich lieber ohne ausländische Hilfe lösen würden.

So haben die Folgen und Spätfolgen des Bebens viel damit zu tun, dass Haiti ein Staat ohne Strukturen ist. Dass Verletzte auch zwei Tage nach einer solchen Naturkatstrophe noch unbehandelt auf den Straßen liegen, wundert nicht, wenn es keine funktionierende Regierung gibt und schon die Sicherstellung einer regelmäßigen Stromversorgung und Müllabfuhr unlösbare Aufgaben sind.

Haitianische Intellektuelle und Politiker, die trotz der Hoffnungslosigkeit in ihrem Land immer die Souveränität der kleinen Inselrepublik verteidigt haben, sagen heute deutlich: „Wir schaffen das nicht allein“. Das lange verbotene Wort des Protektorats, dessen Erwähnung schon als Landesverrat galt, wird heute immer öfter als die einzig mögliche Lösung erwogen. Haiti braucht Paten, die sich seiner annehmen. Die USA, Europa, die UNO und immer mehr auch Staaten wie Brasilien und Chile werden zusammenarbeiten und helfen müssen, bis sich die Haitianer hoffentlich eines Tages selber helfen können.