Erfurt. .
Die Kündigung der als „Emmely“ bekannten Kassierin Barbara E. wurde gekippt. Arbeitsrechtler sehen in dem Urteil eine „atmosphärische Veränderung der Rechtsprechung“. Die jahrelange Debatte über Arm und Reich habe das Gerechtigkeitsempfinden geschärft.
Wegen zweier Pfandbons im Wert von 1,30 Euro verlor die Berliner Kassiererin Barbara E. ihre Arbeitsstelle. Nachdem sie rund 30 Jahre für die Supermarktkette Kaiser´s Tengelmann gearbeitet hatte, sah der Konzern in dem vermeintlichen Diebstahl einen Grund für die außerordentliche Kündigung. Dieses Vorkommnis trug sich im Februar 2008 zu. Als ein Jahr später das Landesarbeitsgericht Berlin der Firma Recht gab, war die öffentliche Aufregung groß.
Seitdem dreht sich die Diskussion über den „Fall Emmely“, wie Barbara E. in den Zeitungen genannt wird, um die große Frage: Ist es gerecht, wenn Unternehmen Milliarden Gewinn machen, eine Kassiererin hingegen wegen 1,30 Euro den Job verliert?
Kündigung erschweren
Das Schicksal Barbara E.’s galt vielen Bundesbürgern als Beleg für die zunehmende Ungerechtigkeit in Deutschland. Die Debatte nahm solche Ausmaße an, dass SPD und Linke sogar Gesetzentwürfe in den Bundestag einbrachten, um Bagatell-Kündigungen wie im Fall Emmely künftig zu erschweren. Die SPD schlägt beispielsweise vor, dass zunächst eine Abmahnung vorliegen müsse, bevor eine Bagatell-Kündigung ausgesprochen wird. Die Linke will sie ganz verbieten lassen. Die Abstimmung darüber steht demnächst an.
Nicht nur Rechtsanwälte erwarteten also mit einiger Spannung, was das Bundesarbeitsgericht in Erfurt gestern entscheiden würde. Dem obersten Arbeitsgericht der Republik lag die Revision von Barbara E.’s Anwalt gegen die Entscheidungen der unteren Instanz vor, die die Kündigung für rechtens erklärt hatte.
Zur Enttäuschung der Tengelmann-Anwälte hoben die Erfurter Richter die Kündigung auf. Grundsätzlich muss die Handelskette die Kassiererin nun wieder einstellen. „Eine Ehe ist leichter zu beenden als ein Arbeitsverhältnis“, kommentierte daraufhin die Anwältin der Arbeitgeberseite, Karin Schindler-Abbes.
Interessen der Beschäftigen werden stärker berücksichtigt
In der Entscheidung erkennt der Berliner Arbeitsrechtsanwalt Lorenz Mayr „eine atmosphärische Veränderung“ der Rechtsprechung, die weit über den konkreten Fall hinausgehe. Die jahrelange Debatte über Arm und Reich habe das Gerechtigkeitsempfinden geschärft, so Mayr. Davon würden auch die Juristen beeinflusst.
So haben jüngst bereits Gerichte der ersten und zweiten Instanz bei Bagatell-Kündigungen die Interessen der Beschäftigten stärker berücksichtigt als früher. Die außerordentliche Kündigung einer Altenpflegerin, die ein paar Maultaschen aus dem Pflegeheim mit nach Hause nehmen wollte, hatte das Landesarbeitsgericht im baden-württembergischen Freiburg aufgehoben. Die Altenpflegerin erhielt zumindest eine Abfindung. Auch das Arbeitsgericht Reutlingen verwarf die fristlose Kündigung eines Beschäftigten der Textilindustrie, der entgegen der Vorschriften der Firma eine Essensmarke der Betriebskantine an seine Le-bensgefährtin weitergegeben hatte.
In diesen Urteilen spiegelt sich laut Arbeitsrechtler Mayr ebenfalls, dass die Gerichte die Interessen der Arbeitgeber etwas niedriger hängen als früher. In den vergangenen Jahren konnten die Unternehmen leicht mit dem vermeintlichen Vertrauensbruch argumentieren. Hegte die Firma auch nur einen Verdacht, ein Beschäftigter bestehle sie und zerstöre damit das Vertrauen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, akzeptierten die Gerichte die Kündigung.
Vertrauen wiegt mehr
Diese Haltung scheint sich nun allmählich zu ändern. Der Verdacht auf Diebstahl weniger Euro könne nicht mehr umstandslos als Begründung eines Vertrauensbruchs herangezogen werden, so Mayr. Ähnlich klang es in der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes: Die Richter erklärten nun, das in 30-jähriger Mitarbeit erworbene Vertrauen könne durch eine einmalige und geringe Verfehlung „nicht aufgezehrt“ werden.