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Fan-Seiten, Twitter-Aktionen, Online-Petitionen: Im Internet wird Stimmung für Joachim Gauck gemacht. Er soll der nächste Bundespräsident werden. Die Kampagne hat nur einen Schönheitsfehler.

Stellen wir uns einen Augenblick lang vor, das deutsche Wahlrecht wäre nicht so, wie es ist. Den Bundespräsidenten könnte man direkt wählen. Wie den Präsidenten in den USA. Und spinnen wir noch ein bisschen weiter: Nicht Parteien, sondern die Bürger selbst würden sich für „ihren“ Kandidaten einsetzen. Genau das passiert in diesen Tagen tatsächlich im Internet. Plötzlich gibt es eine Kampagne für Joachim Gauck als Bundespräsidenten. Dabei hatte man der sogenannten Netzgemeinde doch immer vorgeworfen, sie sei unpolitisch, wenn es nicht gerade um die klassischen Internet-Themen wie Urheberrecht und Datenschutz gehe.

Seit dem Wochenende fegt ein Kampagne durchs Netz, wie es sie seit „Zensursula“ nicht mehr gegeben hat. Damals protestierten Netz-Aktivisten gegen die von der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen initiierten Netz-Sperren gegen Kinderpornografie. Wichtigster Unterschied: Diesmal ist man nicht gegen eine Person, sondern spricht sich für jemanden aus.

Eine Gruppe auf Facebook mit dem Namen „Joachim Gauck als Bundespräsident“ hatte am Montagnachmittag, fünf Tage nach ihrer Gründung, schon über 8300 Mitglieder. Sie bekunden nicht nur passiv durch Mitgliedschaft ihre Sympathien für Gauck, sondern diskutieren auch über dessen Kandidatur. Darüberhinaus gibt es jede Menge Gauck-Zitate, Videos und Fotos, die Facebook-Nutzer auf die Seite posten. Darunter findet sich auch ein Bild, das einen zunächst stutzig werden lässt: „Liberale für Gauck“ steht da Blau auf Gelb neben dem Kopf von Gauck. Moment mal: Hatte sich die FDP nicht längst für Christian Wulff als Präsidentschaftskandidaten entschieden?

Marco Biewald, Vorsitzender des FDP-Ortsverbandes Düsseldorf Mitte, hat die Collage auf die Facebook-Seite gestellt und kein Problem damit, dass er sich damit gegen die Spitze seiner Partei richtet: „Wir stehen nicht am Ende, sondern am Anfang einer Diskussion“, sagt er. In seiner Partei nehme er eine Stimmung wahr, die mit Joachim Gauck als Bundespräsidenten sehr gut leben könnte. Übrigens war auch der Gründer jener Facebook-Fangruppe, Christoph Giesa, einst Vorsitzender der „Jungen Liberalen“ in Rheinland-Pfalz.

Die weitaus meisten Pro-Gauck-Initiatoren im Netz haben allerdings keinen parteipoltischen Hintergrund. Oft zählen sie aber zu Meinungsführern im Netz, die das Kampagnen-Geschäft gut verstehen. Zum Beispiel Nico Lumma von der Werbeagentur Scholz & Friends. Er hat mit „Wir für Gauck“ eine Online-Petition ins Netz gestellt, die bis Montagnachmittag über 700 Mitzeichner hatte. Eine andere, an den Bundestag gerichtete Petition hatte am Montagnachmittag schon über 2200 Mitzeichner.

Dass im Netz kein Hehl aus den Sympathien für Joachim Gauck gemacht wird, zeichnete sich auch in „Votings“ ab. Auf DerWesten waren am Montag 68 Prozent für Joachim Gauck, Christian Wulff bekam gerade einmal 9 Prozent der Stimmen. Das ist weder wissenschaftlich, noch repräsentativ. Doch es passt zur allgemeinen Stimmung im Netz, das seinen Präsidenten gefunden hat.

Das Ganze hat Geschichte. Als Ursula von der Leyen als Präsidenschaftskandidatin ins Spiel gebracht wurde, war das alte Feindbild wieder da. Im Mikroblogging-Dienst Twitter wurde sie unter dem Schlagwort „#notmypresident“ (nicht mein Präsident) abgelehnt. Daraus wurde nach Gaucks Kandidatur bald “#mygauck“. Wer einen Tweet mit diesem Schlagwort abschickt, taucht mit seinem Twitter-Bild (Avatar) in einem Mosaik auf. Zusammen ergeben sie ein Porträt Gaucks. Bis Montagnachmittag hatten 2500 Twitter mitgemacht. Die Stimmung für Gauck und gegen Wulff ist so stark, dass ein TAZ-Blogger schon von einem „Sommermärchen“ träumte. Ob die Kampagne das Netz verlässt, ist aber noch völlig offen.

Und sie hat einen Schönheitsfehler: Das Volk wählt bei uns den Präsidenten nicht direkt.