Berlin. Ein älterer Jude aus Berlin findet sich plötzlich von Nazis umringt, die ihn zu Boden schlagen und höhnisch fragen: "Na, Jude, wer ist denn schuld am Krieg?" Der kleine Jude ist nicht auf den Kopf gefallen und antwortet: "Die Juden und die Radfahrer".
„Warum die Radfahrer?“, fragen die Nazis. „Warum die Juden?“, kontert der alte Mann.
Das Lachen über jüdische Witze, so auch diesen, bleibt einem mitunter im Halse stecken. Leichthin formulierte Aussagen wie die der Naziraufbolde über die Juden mögen lächerlich sein. Doch sie fallen auf fruchtbaren Boden, weil antisemitische Klischees und Vorurteile nicht aus der Welt zu schaffen sind: Juden hätten Jesus ermordet, strebten in verschwörerischer Weise die Weltherrschaft an, steuerten über ihre Lobby die amerikanische Politik, manipulierten die Medien; Bolschewismus und Anarchie, die skrupellose Verwilderung und Auflösung jeder Kultur seien jüdischen Hirnen entsprungen.
Viele Missverständnisse
Derlei hartnäckigen Vorurteilen, in Sonderheit deutsch-jüdischen Missverständnissen, widmet sich der ehemalige israelische Botschafter Avi Primor, ein ebenso intellektuelles wie kritisches Aushängeschild des Staates der Juden, in seinem neuesten Werk. Genau genommen ist es ein Gesprächsbuch: Im Dialog mit der Kulturjournalistin Christiane von Korff analysiert Primor in zwölf Kapiteln die gängigsten Vorurteile über die Juden.
Dass die Sonderrolle der Juden nicht allein einer Außensicht, sondern auch einem Selbstbild entspringt, wurzelt tief in jüdischer Tradition und Gesellschaft. Doch Primor sagt auch: „Die jüdische Religion hatte nie den Ehrgeiz, die Welt zum Judentum zu bekehren . . . Juden haben ihre Religion immer als die einer kleinen Minderheit verstanden“. Doch die in Jahrtausenden gesammelten schlimmen Erfahrungen, insbesondere die Shoa, die immer wieder erlittene gesellschaftliche Ausgrenzung, machen die Juden so verletzlich – und lassen sie auf jegliche Kritik oft mit dem Vorwurf des Antisemitismus antworten.
Beim Abendessen in Berlin frage ich Primor, was ihn als Botschafter in Deutschland am meisten gestört habe. „Ach“ sagt er, „die Beschuldigung, die Juden würden den Holocaust nutzen. Auschwitz sei ein wunderbares Unternehmen gewesen, um daran Geld zu verdienen“. Und leise fügt er hinzu: „Das ist natürlich absurd“.
Im Buch führt Primor den Nachweis, dass die überwiegende Mehrheit der Betroffenen gar nicht im Sinn gehabt habe, in Deutschland um Entschädigung anzustehen. „Blutgeld anzunehmen ist mit dem jüdischen Selbstverständnis unvereinbar“. Erst die wirtschaftliche Zwangslage, hervorgerufen durch den wirtschaftlichen und politischen Boykott des Auslands als Reaktion auf die Staatsgründung, habe Israels Regierung veranlasst, sich dieser Themen über die Alliierten anzunehmen. Mit seiner offenen Art habe Kanzler Adenauer mit Premierminister Ben Gurion direkte Verhandlungen angeboten – „hinter verschlossenen Türen, um die israelische Öffentlichkeit nicht zu brüskieren“.
Antisemitismus geht zurück
Primor schlägt versöhnliche Töne an: „Die Bundesrepublik hat die Verantwortung auf beispiellose Weise akzeptiert und sich bemüht, die Opfer zumindest minimal zu entschädigen“. Gerade in Deutschland, sagt Primor, „geht der Antisemitismus zurück, je jünger die Menschen sind, desto weniger antisemitisch sind sie“. Und lachend fügt er hinzu: „Wie absurd der Gedanke ist, wir Juden seien verschwörerisch, zeigt das Sprichwort: „Wenn drei Juden zusammensitzen, gibt es vier verschiedene Meinungen“.
(Avi Primor/Christiane von Korff: An allem sind die Juden und die Radfahrer schuld, München/Zürich 2010, 307 S., 19,95 Euro)