Berlin. FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann warnt vor Putins Aufrüstung – und will 900.000 Reservisten aktivieren.
Mit einem Rucksack über der Schulter kommt Marie-Agnes Strack-Zimmermann zum Besuch in unsere Redaktion. Ihr Blick richtet sich schon nach Brüssel, die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses kandidiert als Spitzenkandidatin der FDP für das Europäische Parlament. Im Interview sagt Strack-Zimmermann, welche Kriegsvorbereitungen von Wladimir Putin sie besonders beunruhigen. Und warum sie über ein AfD-Verbotsverfahren nun anders denkt.
Sie sind praktizierende Karnevalistin. Haben Sie mal ein Lied mitgesungen, für das Sie sich heute schämen?
Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Nein, nie. Ich trinke sehr wenig Alkohol, aber so betrunken könnte ich auch gar nicht sein, um nicht zu merken, was ich singe. Auch nicht bei einem ausgelassenem Karnevalsfest.
In einer Nobelbar auf Sylt haben Partygäste zum Lied „L’amour toujours“ von Gigi D‘Agostino gegrölt: „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus.“ Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?
Das kann man nicht nur an den Vorfällen von Sylt festmachen. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das mich sehr beunruhigt. Ideologie und Worte, die Nazis nutzen, sind in die Gesellschaft eingeflossen und fangen an, sich zu verselbstständigen. Es ist offensichtlich bei manchen das Gefühl verloren gegangen, was man da eigentlich vertont. Wir haben es mit einer besorgniserregenden Verrohung und mangelnder Empathie zu tun, die vermutlich auch auf fehlende Bildung und politisches Desinteresse zurückgehen.
Gehört das Lied, das zur Nazi-Hymne verkommen ist, auf den Index?
Das Lied ist ja nicht schuld daran, dass es von den Rechten vereinnahmt und umgetextet wurde. Es ist aber sinnvoll und vorausschauend, dass die Veranstalter des Oktoberfests diesen Song aktuell von der Liederliste gestrichen haben. Jedenfalls sollte man aktiv werden, wenn man solche Texte hört: Einfach den Stecker der Musikbox ziehen, dann hört das Singen auf. Und man kann Anzeige erstatten, damit diese Vorgänge gerichtlich ein Nachspiel haben. Das Schlimmste wäre, wegzuhören und nicht darauf zu reagieren.
Das Klima in der Gesellschaft spiegelt sich auch in den Umfragen: Eine Woche vor der Europawahl liegt die AfD – allen Skandalen zum Trotz – immer noch zwischen 15 und 20 Prozent. Ihre eigene Partei ist auf vier bis fünf Prozent geschrumpft. Wird Ihnen da mulmig?
Es ist unsere Aufgabe, klare Kante zu zeigen und die AfD mit ihren Ansichten zu stellen. Schließlich will sie Deutschland aus der EU rausführen. Bedauerlich ist, dass ein Teil derer, die für die AfD stimmen wollen, sich von der demokratischen Diskussion bereits abgemeldet haben.
Die AfD steht inzwischen so weit rechts, dass sich Marine Le Pen und andere Extremisten in Europa von ihr abwenden. Warum zögern Sie, ein Verbotsverfahren zu beantragen?
Ich war lange gegen ein Verbotsverfahren, weil sich die AfD dann zum Opfer stilisiert hätte.. Seit den jüngsten Enthüllungen allerdings sehe ich das anders. Der Europa-Spitzenkandidat Krah hat offensichtlich Kontakte zur chinesischen Spionen - und das wohl nicht nur über Mitarbeiter. Und Bystron, die Nummer zwei, steht unter dem Verdacht, von Russland viel Geld angenommen zu haben. Das ist keine Alternative für Deutschland, das ist ein Albtraum für Deutschland. Denn sie verraten unser Land. Wir müssen uns dringend mit einem Parteiverbot auseinandersetzen.
Die AfD will die Waffenlieferungen an die Ukraine stoppen – und wieder Gas aus Russland einführen. Wie groß ist die Gefahr, dass die Stimmung in diese Richtung kippt?
Ich sehe überhaupt nicht, dass die Stimmung kippt. Die Energiepreise sind deutlich gesunken. Natürlich gibt es Menschen, die sich nachvollziehbar belastet fühlen durch den Krieg in der Ukraine. Aber die AfD hat ja eine andere Motivation. Sie singt Putins Lied und behauptet, die Ukraine sei selbst schuld, dass sie angegriffen wurde. Die Ukraine wird vom Opfer zum Täter gemacht. Das ist Gott sei Dank in Deutschland nicht mehrheitsfähig.
Ist Putin dabei, den Krieg in der Ukraine zu gewinnen?
Putin hat momentan strategische Vorteile. Aber die Ukraine kann den Krieg gewinnen, wenn wir sie deutlich mehr unterstützen. Die These, dass der Stärkere automatisch den Schwächeren besiegt, ist historisch widerlegt. Die Amerikaner waren in Vietnam und haben verloren. Die Russen marschierten in Afghanistan ein und verließen das Land als Verlierer.
Die Bundesregierung hat Kiew jetzt die Erlaubnis gegeben, mit gelieferten Waffen militärische Ziele auch in Russland anzugreifen. Worauf läuft das hinaus?
Deutschland hat mit der Ukraine eine weise Vereinbarung getroffen, um russische Angriffe frühestmöglich abwehren zu können: Die ukrainische Armee darf die von uns gelieferten Waffen im Rahmen des Völkerrechts auch gegen militärische Ziele auf russischem Staatsgebiet einsetzen. Es ist der Ukraine und ihren militärischen Partnern bekannt, wo die Abschussrampen stehen, die täglich die Ukraine brutal angreifen und unzähligen Menschen das Leben kosten. Welche Waffen für welche Abwehr genutzt werden, darüber entscheidet die Ukraine alleine. Es ist wichtig, Putin zu signalisieren, dass der Westen zusammensteht. Wir dürfen nicht zulassen, dass er unseren Zusammenhalt jeden Tag aufs Neue auf die Probe stellt und wir uns von seinen Tricks einschüchtern lassen. Denn genau das will er.
Putin droht mit „ernsten Konsequenzen“. Sind Sie sicher, dass er blufft?
Selbstverständlich nicht. Putin ist ein Mörder. Aber auch er weiß, dass er militärisch verletzlich ist. In jedem Fall ist Putin ein Stratege, der Deutschlands Mentalität kennt. Er nutzt seine immerwährenden Drohungen auch dazu, uns zu verunsichern. Wir sollten ihm nicht den Gefallen tun. Allen muss klar sein: Putin wird immer weiter voranschreiten, wenn wir ihn in der Ukraine nicht stoppen.
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Der Kanzler lehnt es immer noch ab, Taurus-Marschflugkörper zu liefern. Mangelt es Scholz an Mut?
Der Kanzler hat bei der Lieferung von Kampfpanzern nachgegeben. Ich befürchte, das hat er als Autoritätsverlust empfunden. Deswegen hat er sich beim Taurus festgelegt, um nicht als der zu gelten, der dem Druck ein weiteres Mal nachgibt. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass der Bundeskanzler die dramatische Lage erkennt und doch noch eine andere Sicht auf die Dinge bekommt.
Sie haben Scholz „autistische Züge“ unterstellt – und Empörung in der SPD ausgelöst.
Ich habe mich bei den Menschen mit Autismus entschuldigt und stehe mit vielen aktuell in Kontakt. Ich wollte sie nicht verletzen, das tut mir sehr leid. Ich bin allerdings einfach verärgert und enttäuscht darüber, dass der Bundeskanzler nicht kommuniziert. Er hat trotz der dramatischen Lage nie ernsthaft mit Fachleuten – weder aus der Wissenschaft noch aus dem Bundestag – eine wirkliche Diskussion zugelassen. Das ist bedauerlich und nicht gut für unser Land.
Sie kokettieren im Wahlkampf mit Ihrem Image als Nervensäge. Was haben Sie für die Ukraine wirklich erreicht?
Ja, ich nerve den ein oder anderen. Aber ich neige nicht dazu, mich zu überschätzen. Ich laufe nicht breitbeinig durch die Republik in der Annahme, alles passiert, wie ich es gerne hätte. Das war eine Teamleistung. Gemeinsam mit Kollegen wie Anton Hofreiter und Michael Roth, mit denen ich als erstes in die Ukraine gereist bin, habe ich die Diskussion über Waffenlieferungen in Bewegung gebracht.
Verteidigungsminister Pistorius nimmt an, dass die Bundeswehr fünf bis acht Jahre Zeit hat, um sich auf einen russischen Angriff vorzubereiten. Ist das realistisch?
Zurzeit hat Russland militärisch überhaupt keine Chance, gegen die Nato zu bestehen. Das weiß Putin. Deswegen greift er den Westen mit anderen Methoden an: mit Cyberangriffen, Spionage, Trollen im Kommunikationsraum und gezielt ausgelösten Fluchtbewegungen. Der russische Angriff gegen uns hat bereits begonnen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass uns der Krieg in der Ukraine unmittelbar betrifft. Wenn Putin mit seinem Angriff erfolgreich ist, wird er seine Raubzüge fortsetzen: Georgien, Moldawien – und wenn er meint, dass die Zeit gekommen ist, wird er auch das Baltikum angreifen.
Was macht Sie da so sicher?
Seit Jahren kündigt er das an, was wir heute erleben. Und zu viele sind davon ausgegangen, dass er einfach so daherredet. Russland produziert nur noch Waffen. Es werden Schulbücher gedruckt, die Deutschland als Aggressor darstellen. Grundschulkinder werden an der Waffe ausgebildet. Das alles ist beängstigend. Putin trimmt sein Volk auf Krieg und bringt es in Stellung gegen den Westen. Daher müssen wir so schnell wie möglich verteidigungsfähig werden.
Das 100-Milliarden-Sondervermögen ist weitgehend verplant. Woher kommt das Geld für die Bundeswehr?
Verteidigung muss aus dem regulären Haushalt finanziert werden. Das Sondervermögen Bundeswehr war eine Ausnahme. Mit den Freien Demokraten wird es keine Sonderschuld mehr geben – und auch keine Lockerung der Schuldenbremse. Schulden werden immer zulasten der nächsten Generation gemacht, die Zins und Tilgung übernehmen müssen. Schulden treiben auch die Inflation an. Wir müssen lernen, in unserem Haushalt Prioritäten zu setzen.
Bedeutet, Sie wollen bei der Rente und beim Bürgergeld kürzen?
Die Menschen, die ein Leben lang gearbeitet haben, verdienen unseren Respekt und haben Anspruch auf ihre Rente. Junge Leute wiederum haben einen Anspruch darauf, ihre Zukunft zu gestalten. Wir sollten die Generationen nicht gegeneinander ausspielen. Das Volumen des deutschen Haushalts ist enorm. Jedes Ressort muss seinen Beitrag leisten und Einsparungen vornehmen. Sicherheit kostet Geld. Sie ist die Basis für alles Weitere. Denn ohne Sicherheit ist alles nichts.
Sind Sie sicher, dass die Bundeswehr ohne Wehrpflicht auskommt?
Die allgemeine Wehrpflicht, wie meine Generation sie noch erlebt hat, wird nicht zurückkommen. Dazu fehlen nicht nur Kasernen und andere Infrastruktur. Es fehlen auch die Ausbilder und das Material, um jährlich 500.000 junge Männer auszubilden. Verteidigungsminister Pistorius hat angekündigt, uns unterschiedliche Modelle einer möglichen Wehrpflicht vorzulegen. Bisher ist das nicht passiert. Insofern sollten wir darauf warten, bevor wir im Detail in die Diskussion einsteigen.
Pistorius als „Reservekanzler“? Noch hat er andere Sorgen
Dem SPD-Präsidium hat Pistorius schon verraten, dass er junge Menschen mit Sprachkursen und kostenlosen Führerscheinen zur Bundeswehr locken will.
Dass man bei der Bundeswehr den Führerschein machen kann, ist nichts Neues. Es gibt Hunderttausende von Soldaten, die seinerzeit die Chance bei der Bundeswehr genutzt haben und auch ihren Lkw-Führerschein gemacht haben.
Wie sieht Ihr Modell aus?
Wir schlagen vor, die ungefähr 900.000 Reservisten zu aktivieren, die wir in Deutschland haben. Dafür müssen wir sie aber erst mal alle registrieren. Die Bundeswehr hat Soldaten und Soldatinnen, die aus dem aktiven Dienst ausgeschieden sind, über Jahrzehnte nicht mehr erfasst. Wenn wir nur die Hälfte davon mit ihrer Expertise als Reservisten gewinnen könnten, wäre das ein unglaubliches Pfund. Das setzt allerdings die Bereitschaft von Arbeitgebern voraus, ihren Angestellten eine gewisse Zeit für diese Aufgabe einzuräumen. Auch das ist Teil der Zeitenwende.
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