Berlin. GKV-Vize Kiefer erklärt, wie hoch die Beiträge steigen, wann die Zahl der Pflegefälle abnimmt und was seine Mutter richtig gemacht hat.
Was ist der größte Fehler, den man mit Blick auf die Pflege machen kann? Gernot Kiefer, der Vize-Vorsitzende des Spitzenverbands der Krankenkassen (GKV), hat eine klare Antwort. Ein Gespräch über die Zukunft der Pflege und was sich heute tun lässt, um einen Kollaps abzuwenden.
Beschreiben Sie bitte doch einmal die Lage in der Pflege mit einem Wort. Krise, Kollaps oder Katastrophe?
Gernot Kiefer: Es ist weder Katastrophe noch Kollaps. Aber wir müssen dringend etwas tun.
Wenn sich nichts Grundsätzliches ändert: Wie ist die Situation in zehn Jahren?
Wenn wir so weitermachen, passieren höchstwahrscheinlich drei Dinge: Erstens werden die Kosten für die Pflege in einem Ausmaß steigen, das für sehr viele Pflegebedürftige nicht mehr zu stemmen ist. Zweitens werden Beschäftigte und Arbeitgeber überlastet, sollte die Politik weiter eindimensional und einfallslos auf steigende Beiträge setzen. Drittens muss wirksam zusätzliches Personal in die Pflege geholt werden und Pflegerinnen und Pfleger müssen im Beruf verbleiben. Sonst droht ein massiver Mangel in der Versorgung.
Zu viele Pflegebedürftige, zu wenige Pflegekräfte: Verschärft sich das Problem gerade?
Ende 2016, im Jahr vor der Einführung der neuen Pflegegrade, hatten wir rund 3 Millionen pflegebedürftige Menschen. Jetzt sind es über zwei Millionen Menschen mehr. Ende 2023 gab es in Deutschland 5,2 Millionen Pflegebedürftige. Der Anstieg über die Jahre ist an sich schon massiv, besondere Sorgen bereiten uns aber die Zahlen aus dem vergangenen Jahr: Wir sehen einen sprunghaften Anstieg bei den Pflegefällen. Wuchs die Zahl der Pflegebedürftigen in früheren Jahren etwa um 326.000 Fälle pro Jahr, gab es 2023 auf einmal ein Plus von 361.000 Fällen. Das ist ein Anstieg von elf Prozent.
Woran liegt das?
Wir haben noch keine abschließende Antwort darauf. Denkbar ist, dass es ein einmaliger Nachholeffekt der Pandemie ist: Viele ältere Menschen haben sich möglicherweise erst spät wieder getraut, die Prüfer des Medizinischen Dienstes ins Haus zu lassen. Sollte dies jedoch ein neuer Trend sein, wird sich die Lage in der Pflege noch einmal deutlich kritischer darstellen.
Wo stehen wir in zehn Jahren?
Der Anstieg wird sich nicht ewig in dieser Dynamik fortsetzen. Ab der zweiten Hälfte der 2030er Jahre wird sich die Kurve etwas abflachen, wenn die Welle der Babyboomerabebbt.
Was bedeutet das für die Beiträge? Aktuell liegt der reguläre Beitragssatz bei 3,4 Prozent des Bruttoeinkommens...
Wenn die Politik weiter ausschließlich an der Beitragsschraube dreht, dann werden die Beiträge schrittweise weiter steigen. Es gibt Alternativen: Wenn der Staat endlich einige der Leistungen, die er der Pflegeversicherung zuordnet, verursachungsgerecht selbst übernehmen würde, ließe sich der Druck auf die Beitragssätze in der Pflegeversicherung deutlich reduzieren. Nehmen Sie die rund vier Milliarden für die Altersversorgung von pflegenden Angehörigen oder die über fünf Milliarden durch die Sonderbelastung in der Corona-Krise. Wenn der Bund das nicht übernimmt, werden die Beiträge in der Pflegeversicherung um mindestens 0,2 Prozentpunkte steigen müssen. Deshalb ist mein dringender Appell auch mit Blick auf die verlässliche Finanzierung, dass die Bundesregierung zum 1. Januar 2025 handeln muss. Es wäre klug, wenn das Thema nicht in den Bundestagswahlkampf gezogen würde.
Was hilft denn langfristig gegen steigende Beiträge? Eine noch stärkere Belastung von Kinderlosen?
Der Beitragssatz für Kinderlose liegt jetzt schon bei 4 Prozent und damit 0,6 Prozentpunkte höher. Ich glaube nicht, dass eine noch stärkere Belastung verfassungsrechtlich Bestand hätte.
Eine noch stärkere Staffelung nach der Kinderzahl?
Die Staffelung wie sie jetzt gilt, entspricht der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts. Es wäre nicht klug, daran zu rütteln.
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Sollten Reiche stärker zur Kasse gebeten werden – etwa durch eine höhere Beitragsbemessungsgrenze?
Das wäre theoretisch eine Option. Eine höhere Beitragsbemessungsgrenze würde dazu führen, dass mehr Geld zur Verfügung stehen würde. Aber das ist eine gesellschaftspolitische Grundsatzfrage, für die ich zurzeit keine Mehrheit im Deutschen Bundestag sehe.
Sollten die Pflegeleistungen gekürzt werden?
Die einmal festgelegten Leistungen sind nicht auf ewige Zeiten unantastbar. Aber ich sage auch ganz klar: Es war richtig, die Versorgung von Demenzkranken in der Pflegeversicherung endlich adäquat abzubilden. Im Moment sehe ich beim Leistungsumfang eher einen deutlichen Nachholbedarf. Eine Debatte über Leistungseinschränkungen ignoriert die reale Lebenssituation vieler Pflegebedürftiger.
Die Pflegeversicherung deckt sowieso nur einen Teil der Kosten für die Pflege ab. Brauchen wir eine Pflegevollversicherung nach dem Vorbild der Krankenversicherung?
Das kann man politisch diskutieren. Man kann sich aber auch Gedanken darüber machen, so meine persönliche Einschätzung, die rechtzeitige Vorsorge und das Bilden von finanziellen Rücklagen für die Zeit der Pflege seitens des Staates zu belohnen. Beträge, die aus der privaten Altersvorsorge, etwa aus einem Fonds, für Pflegeleistungen genutzt werden, sollten steuerfrei gestellt werden.
Das größte Problem bleibt der Personalmangel: Wie groß ist die Lücke aktuell? Und wie viele Pflegekräfte fehlen bis 2034?
Im Moment fehlen mehr als 30.000 Vollzeitkräfte. Wenn nicht entschlossen gegengesteuert wird und man das weiter denkt, wäre die Lage in zehn Jahren dramatisch.
Höhere Löhne, mehr Azubis, mehr Fachkräfte aus dem Ausland – das hilft alles, aber es reicht nicht. Gesundheitsminister Lauterbach will Pflegekräften jetzt mehr medizinische Kompetenzen und mehr Einsatzbereiche geben. Was bringt das?
Die Idee ist richtig. Wenn es auf diese Weise gelingen würde, mehr Pflegekräfte im Beruf zu halten, wäre viel gewonnen. Denn genau das ist ein zentrales Problem: Zu viele hochqualifizierte Pflegerinnen und Pfleger gehen zu früh aus dem Beruf.
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Welche ärztlichen Tätigkeiten sollten Pflegekräfte übernehmen?
Pflegefachkräfte sollten zum Beispiel bei gut eingestellten Patienten Folgemedikamente verschreiben können. Bei der Behandlung eines chronischen Bluthochdrucks muss nicht jedes Mal ein Arzt oder eine Ärztin die Verordnung übernehmen.
Sollten Pflegekräfte auch die Einstufung für den Pflegebedarf übernehmen?
Grundsätzlich ist das denkbar. Pflegekräfte haben genau die Kompetenz, die nötig ist, um den Zustand eines Patienten zu beurteilen und eine Empfehlung für die Pflegekassen abzugeben. Wichtig ist nur, dass ausgeschlossen wird, dass es nicht zu einer Vermischung von Interessen kommt. Es darf nicht sein, dass die Pflegeanbieter mit ihren legitimen geschäftlichen Interessen Einfluss auf die Einstufung nehmen.
80 Prozent der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt. Wie können Angehörige noch besser entlastet werden? Experten fordern jetzt einen Lohnersatz, wenn Berufstätige eine Auszeit für die Pflege nehmen.
Ich kann die Forderung verstehen. Ohne pflegende Angehörige würde das Pflegesystem zusammenbrechen. Und es stimmt auch, dass die Leistungen im Vergleich zu den Kinderziehungszeiten viel zu gering sind. Die Frage ist nur, wer soll das bezahlen?
Die Pflegekasse?
Das würde dazu führen, dass die Finanzlücke noch größer würde. Zum Glück ist die Pflege durch Angehörige, in der Realität häufig durch Frauen, trotz aller gesellschaftlicher Veränderungen noch stabil. Aber wir sollten die Belastung pflegender An- und Zugehöriger sehr genau im Blick haben.
Wann sollte man anfangen, sich um die eigene Pflege zu kümmern und Optionen zu planen?
Wenn man Ende vierzig ist, sollte man sich diese Fragen stellen. Auch ist es spätestens dann an der Zeit, mit der finanziellen Vorsorge für die Pflege zu starten. Wichtig ist auch, dass man sich fragt, wie man sein Leben in den kommenden Jahrzehnten organisieren will und wie man sich das Leben im hohen Alter vorstellt, wenn man nicht mehr alles allein kann.
Was ist der größte Fehler, den jeder Einzelne mit Blick auf die Pflege begehen kann?
Der größte Fehler ist, nicht über die Pflege zu reden. Andersherum gesagt: Es ist wichtig, rechtzeitig herauszufinden, was man will und darüber mit seinen Angehörigen zu reden. Genauso haben wir es gemacht und so machen es viele andere auch. Mit Anfang siebzig kam meine Mutter auf uns zu und hat klar gesagt, wie sie sich das vorstellt: Sie wollte so lange wie möglich zu Hause leben. Sollte sich das ändern, werde sie uns Bescheid sagen. Mit Anfang neunzig rief sie dann an und sagte: ‚Jetzt geht es nicht mehr, besorgt mir einen Platz in einer Pflegeeinrichtung.‘ So kann es laufen. Das war ein Glücksfall.