Berlin. Die Liberalen wollen Mehrarbeit steuerlich begünstigen, die Gewerkschaften sind dagegen. Doch Beschäftigte gehen bislang oft leer aus.
Millionen Arbeitnehmer in Deutschland leisten Überstunden, zumindest hin und wieder. Die FDP von Parteichef und Finanzminister Christian Lindner dringt jetzt darauf, Mehrarbeit steuerlich zu begünstigen. Das soll der Wirtschaft einen Schub verleihen, die Einkommen der Beschäftigten erhöhen und den Mangel an Fachkräften mindern. Die Gewerkschaften finden den Vorstoß „verrückt“, die Koalitionspartner SPD und Grüne haben wenig Lust auf die Debatte. Wir erläutern, warum das Thema Sprengkraft birgt.
Was genau wollen die Liberalen?
Anfang der Woche hat das FDP-Präsidium ein Papier beschlossen, das Wege aufzeigen soll, um Deutschland international wettbewerbsfähiger zu machen. Mit Blick auf die anstehenden Wahlen zum EU-Parlament und in drei Bundesländern wollen sich die Liberalen wieder stärker als Wirtschaftspartei profilieren. Unter anderem heißt es in dem Papier: „Wir fordern die Einführung von Steuervorteilen für geleistete Überstunden.“ Würden Lohn und Zuschläge für Überstunden steuerfrei gestellt, sei dies „ein Anreiz für Mehrarbeit“.
Wie werden Überstunden bisher besteuert?
So wie das andere Einkommen auch – sofern sie überhaupt bezahlt werden. Denn für die meisten hierzulande geleisteten Überstunden erhalten die Arbeitnehmer gar kein Geld. Verbreitet sind Regelungen zum Freizeitausgleich. In vielen Fällen leisten Beschäftigte aber auch Mehrarbeit, ohne irgendetwas dafür zu bekommen.
Wenn der Arbeitsvertrag vorsieht, dass Überstunden gesondert vergütet werden, dann werden Lohn und gegebenenfalls Zuschläge vom Fiskus zum übrigen Einkommen addiert und entsprechend versteuert. „Die progressive Lohn- und Einkommensteuer verringern diese Überstundenzuschläge“, betonen die Liberalen. „Um das zu verhindern, könnten sowohl eine begrenzte Zahl von Überstunden wie auch ausbezahlte Überstundenzuschläge steuerfrei gestellt werden.“
Wie viele Überstunden leisten Arbeitnehmer hierzulande?
Alle 42 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zusammen leisteten im vergangenen Jahr 554 Millionen bezahlte und 775 Millionen unbezahlte Überstunden. Das Volumen lag also insgesamt bei rund 1,3 Milliarden Stunden Mehrarbeit, wie aus der aktuellen Jahresbilanz des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hervorgeht. Das IAB ist die Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit. Laut Jahresbilanz leisteten die einzelnen Beschäftigten im vergangenen Jahr im Schnitt 13,2 bezahlte und 18,4 unbezahlte Überstunden, was gegenüber dem Vorjahr einem Rückgang um 1,1 beziehungsweise 1,7 Stunden entspricht.
Warum sind die Gewerkschaften gegen eine steuerliche Begünstigung von Überstunden? Gönnen sie den Arbeitnehmern etwa nicht die höheren Einkommen?
Die Gewerkschaften argumentieren bereits seit Jahrzehnten, dass hierzulande viel zu viele Überstunden geleistet würden. Das Arbeitsvolumen solle besser auf mehr Köpfe verteilt werden – etwa dadurch, dass Erwerbslose eingestellt werden oder Teilzeitkräfte ihre Stundenzahl erhöhen können. In aktuellen Tarifrunden spielt die Wochenarbeitszeit wieder verstärkt eine Rolle. Gewerkschaften dringen in diversen Branchen auf eine Absenkung, um der zunehmenden Arbeitsverdichtung entgegenzuwirken und die Tätigkeiten angesichts des Fachkräftemangels für Interessenten attraktiver zu machen.
DGB-Chefin Yasmin Fahimi sagte dieser Redaktion: „Verrückte Ideen wie steuerfreie Überstunden laden gerade dazu ein, entweder Vollzeitarbeit zu verdrängen oder die geschlechterungleiche Verteilung von Arbeit noch weiter anzukurbeln.“ Wer den Fachkräftemangel wirksam bekämpfen wolle, sollte dafür sorgen, dass mehr Eltern in Vollzeit arbeiten können. Dafür brauche es vor allem mehr und bessere Kinderbetreuung. Der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, Frank Werneke, warnte davor, dass durch Steuervergünstigungen für Überstunden die Einnahmebasis des Staates erodieren könne.
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