Possad-Pokrowske/Berlin. Zerstörte Brücken, Fabriken, Schulen – die Ukraine braucht Hunderte Milliarden für den Wiederaufbau. Wie Deutschland jetzt helfen will.
Es gibt immer wieder diese Tage, an denen Oleh Dolgolutskyi müde ist, weil er den Eindruck hat, dass sich nichts bewegt in Possad-Pokrowske. Als er im Herbst 2022 in die Ruinen zurückkehrte, die einmal sein Dorf waren, da hatte er die Hoffnung, dass es rasch vorangehen könnte mit dem Wiederaufbau. Auch, weil die Behörden viele Versprechungen machten. Aber es dauert alles länger, als er und die anderen Dorfbewohner erwartet haben. „Jeder ist wütend auf die Behörden, der Aufbau geht nur sehr langsam voran“, sagt Dolgolutskyi.
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Der schleppende Wiederaufbau der zerstörten Dörfer und Städte ist einer der Gründe, warum die Menschen in der Ukraine zunehmend desillusioniert sind. Es ist eine Mammutaufgabe für die nächsten Jahrzehnte. Der ukrainische Staat wird das allein nicht stemmen können. Das wissen auch die Partner des überfallenen Landes. Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) will deshalb die ukrainische Privatwirtschaft dabei unterstützen, sich am Wiederaufbau des Landes zu beteiligen.
Ukraine: Kleines Dorf wurde Schauplatz des Kriegs
Possad-Pokrowske fließt links und rechts der M14 im Süden der Ukraine in die Steppe hinein. Es ist ein einfaches Straßendorf, so unbedeutsam, dass die Invasoren in schier endlosen Kolonnen einfach ohne Halt hindurchfuhren, als sie Ende Februar, Anfang März 2022, versuchten, von Cherson aus Richtung Nordwesten nach Mykolajiw vorzustoßen. Doch das misslang. Die Soldaten des russischen Präsidenten Wladimir Putin erlitten schwere Verluste, mussten sich zurückziehen und gruben sich in einer Anhöhe gegenüber von Possad-Pokrowske ein. Im Dorf verschanzten sich ukrainische Soldaten.
Plötzlich steckte der kleine Ort mitten im Krieg, als ein Schauplatz erbitterter Kämpfe. Monatelang gingen jeden Tag Geschosse auf das Dorf nieder, manchmal explodierten bis zu 400 am Tag. Raketen. Granaten. Luftminen. Das Dorf, in dem vor dem russischen Überfall etwa 2400 Menschen lebten, versank in Schutt und Asche.
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Dorfbewohner nehmen Wiederaufbau selbst in die Hand
Als im November 2022 Cherson befreit wird, kehrt das Leben nach Possad-Pokrowske zurück. Menschen wie Oleh Dolgolutskyi wollen ihr altes Leben wieder zurückhaben. Sie beginnen mit dem Wiederaufbau. Vieles machen sie in Eigenregie. Dolgolutskyi schließt sich mit Freunden zusammen. Sie reparieren das zerstörte Haus seiner Mutter, sie legen Wasserleitungen, installieren Solarleuchten, die sie gespendet bekommen haben. Bauern ziehen Blindgänger aus den Feldern, um die Äcker wieder bestellen zu können.
Unterstützt werden die Dorfbewohner zumeist von Hilfsorganisationen. Die Behörden reparieren die Straße, die durch das Dorf führt. Sie schließen es wieder an das Stromnetz an. Sie erklären, Possad-Pokrowske zu einem Modelldorf machen zu wollen, stellen Schautafeln aus, auf denen schöne Bilder von Architekten zu sehen sind. „Die Ukrainerinnen und Ukrainer arbeiten bereits heute mit beeindruckendem Einsatz am Wiederaufbau ihres Landes“, sagt Entwicklungsministerin Schulze.
Bisher rund eine Viertelmillion Wohngebäude zerstört
Doch die überwältigende Dimension der Zerstörung im ganzen Land überfordert die staatlichen Stellen. Es gibt Hunderte Possad-Pokrowskes in der Ukraine. Die Fahrten durch weite Teile des Südens und des Ostens führen zwei Jahre nach dem Beginn des russischen Überfalls durch apokalyptische Ruinenlandschaften. Fabriken, Schulen, Kindergärten, Wohnhäuser liegen in Trümmern. Bahnstrecken, Strecken, Felder sind von Kratern übersät. Brücken liegen zerborsten in Gewässern.
Allein rund eine Viertelmillion Wohngebäude sind bislang zerstört oder beschädigt worden, schätzt die Kiewer Hochschule für Wirtschaft (KES). Dazu rund 3800 Bildungseinrichtungen, etwa 580 Verwaltungsgebäude, fast 430 Krankenhäuser. Die zahllosen russischen Angriffe auf die kritische Infrastruktur des Landes, die in den vergangenen Wochen wieder deutlich zugenommen haben, haben Kraftwerke, Umspannwerke, Hochspannungsleitungen, Dämme getroffen. Die Behörden konzentrieren sich gezwungenermaßen auf die Reparatur der lebenswichtigen Infrastruktur. Strom, Gas, Wasser, Straßen, Bahngleise. Geld für die Unterstützung von Dorfbewohnern wie Oleh Dolgolutskyi haben sie nicht, zumal kein Ende des Krieges in Sicht ist.
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Ukraine: Entwicklungsministerin Schulze will Institut für Wiederaufbau gründen
Die Weltbank beziffert die Gesamtkosten für den Wiederaufbau des Landes bereits jetzt auf eine Summe von rund 452 Milliarden Euro. „Diese enorme Summe wird nicht von öffentlichen Haushalten allein aufgebracht werden können“, sagt Entwicklungsministerin Schulze. Deshalb sei es wichtig, dass private Unternehmen sich stärker am Wiederaufbau und der Modernisierung des Landes beteiligen können. „Günstige Finanzierung für kleine und mittlere Unternehmen ist einer der wirksamsten Hebel für den Wiederaufbau“, ist Schulze überzeugt. In Kriegszeiten fällt es gerade diesen Unternehmen schwer, an Finanzierungen zu kommen, zudem leiden sie häufig unter enormen Umsatzrückgängen, einem Mangel an Mitarbeitern oder der Zerstörung ihrer Produktionsstätten.
Schulze will deshalb ein Institut für den Wiederaufbau der Ukraine gründen, nach dem Vorbild der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), die zum Wegbereiter des Wirtschaftswunders in den 1950er- und 1960er-Jahren geworden ist. „Diese Erfahrungen können wir auch in den Wiederaufbau der Ukraine einbringen“, sagte Schulze im Gespräch mit unserer Redaktion. „Wir sind bereits mit der ukrainischen Regierung über den Aufbau eines solchen Instituts im Gespräch.“
Fehlendes Geld für Wiederaufbau belastet Ukrainerinnen und Ukrainer
Für den 11. und 12. Juni laden Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zu einer Ukraine-Wiederaufbaukonferenz in Berlin ein. Mehr Unterstützung für private Unternehmen könne ein gutes Ergebnis dieser Wiederaufbaukonferenz sein, sagt Schulze.
Die Ukraine, betont die deutsche Entwicklungsministerin, brauche mehr als nur Waffen, um in diesem Krieg bestehen zu können. „Es kommt auch darauf an, dass die Wirtschaft weiterläuft und das Land den Wiederaufbau finanzieren kann.“ Wie wichtig die Unterstützung der ukrainischen Wirtschaft ist, zeigt sich auch in Possad-Pokrowske. „Immer geht das Geld aus“, berichtet Oleh Dolgolutskyi am Telefon. „Die Arbeiter, die hier für den Bau von Wasserleitungen sind, haben keinen Lohn bekommen. Jetzt sind die Bauarbeiten wieder gestoppt worden.“ Das drückt auf die Moral der Menschen, die ihr Dorf wieder zu einem lebenswerten Ort machen wollen. Im vergangenen Sommer waren rund 1000 Menschen nach Possad-Pokrowske zurückgekehrt. Jetzt leben nur noch 800 im Dorf.
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