Düsseldorf. Die NRW-Landesregierung befürchtet, dass Putins Gefolgsleute nach der Präsidentenwahl immer hemmungsloser Staatsterror betreiben.
Yuri Nikitin ist ein Mann, der sich nicht so leicht einschüchtern lässt. Der 52-jährige Geschäftsmann nutzt seine beeindruckende Bass-Stimme, um immer öfter und immer lauter vor dem langen Arm des Gewaltherrschers Putin zu warnen. Er spürt aber, dass jene, die hierzulande den Kreml-Diktator kritisieren, zunehmend gefährlich leben.
Demos gegen Putin, Solidarität mit der Ukraine
Der in Moskau geborene Düsseldorfer Nikitin und seine Aktivisten aus dem vor drei Jahren gegründeten Verein „Freies Russland NRW“ haben wiederholt vor dem russischen Generalkonsulat in Bonn demonstriert. Sie organisieren Gedenkveranstaltungen für Alexej Nawalny, solidarisieren sich mit Ukrainerinnen und Ukrainern und decken Propaganda-Lügen auf, mit denen Moskau permanent russischsprachige Menschen in NRW berieselt.
„Yuri Nikitin gehört zu jenen mutigen Menschen, die sich trotz Unterdrückung und Repressalien für ein offenes Russland einsetzen“, sagte Stefan Engstfeld (Grüne), Vorsitzender des Ausschusses für Europa und Internationales, bei einem Besuch des Aktivisten im Landtag. Aber Nikitin weiß, dass der Kampf gegen Putin gefährlich werden kann, sogar in NRW. Zum Mut gesellt sich daher die Vorsicht.
Yuri Nikitin warnt: „Das Regime in Russland wird immer brutaler“
„Das Regime in Russland wird immer brutaler, und es ist sehr wahrscheinlich, dass in einigen Jahren auch Druck ausgeübt wird auf in Russland lebende Verwandte von Putin-Kritikern im Ausland“, befürchtet Nikitin. Der von ihm gegründete Verein „Freies Russland NRW“ wurde von Moskau vor zwei Monaten als „in Russland unerwünschte ausländische Organisation“ eingestuft. „Damit sind wir aktuell zwar nicht unter den Top 100 der Gefährdeten, aber die Gefahr wird zunehmen“, glaubt Nikitin.
Im Moment, erzählt er, seien 24 Organisationen in Deutschland aus Moskaus Sicht „unerwünscht“. Die Liste werde aber rasch länger, so Nikitin. Noch riskanter sei die Einstufung als „extremistische Organisation“ -- hier steht zum Beispiel das Team Nawalny -- und die als „terroristische Organisation“.
NRW-Innenministerium: „Die Hemmschwelle für russischen Staatsterrorismus sinkt“
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) warnt in einem Bericht an den Europa-Ausschuss des Landtags: „Für in Deutschland lebende russische Oppositionelle, Menschenrechtsverteidiger und Deserteure besteht eine anhaltende erhebliche abstrakte Gefährdung.“ Die Hemmschwelle für russischen Staatsterrorismus sinke immer mehr. Reul nennt die Giftanschläge gegen Sergej Skripal und Andrej Nawalny und den Berliner „Tiergartenmord“ an einem Georgier als Beispiele für die Skrupellosigkeit Moskaus.
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und die damit verbundene politische und militärische Eskalation seien dazu geeignet, das Risiko für im Ausland lebende Oppositionelle zu erhöhen, so Reul weiter. Längst sei es normal für das Putin-Regime, die russische Diaspora einzuschüchtern. Es gehe um Unterwanderung, Ausspähung, Einflussnahme oder Spaltung. „So soll ein Klima der Angst erzeugt werden, das Oppositionelle verstummen lässt.“
Wird die Gefahr unterschätzt?
Russland betreibe in Deutschland nicht nur Spionage, sondern versuche auch, „illegitim auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einzuwirken“, warnt das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestags in einer Unterrichtung des Parlaments. Dieses Gremium aus Abgeordneten, das für die Kontrollen der Nachrichtendienste des Bundes zuständig ist, meint, Politik und Gesellschaft in Deutschland hätten die Tragweite der Bedrohung durch Russland immer noch nicht erkannt.
Das Putin-Regime schrecke nicht vor Mordanschlägen in Deutschland und in Europa zurück. Die Angriffe Moskaus zielten auf Destabilisierung, Verunsicherung und gesellschaftliche Spaltung in Deutschland.
Warum gibt es keinen schnellen Schutz für russische Kriegsdienstverweigerer in NRW?
Der Vorsitzende des Landtags-Petitionsausschusses, Serdar Yüksel (SPD), macht darüber hinaus auf eine Schutz-Lücke für Russen, die sich dem Kriegsdienst durch eine Ausreise nach Deutschland entziehen wollen, aufmerksam. Die Petition eines russischen Staatsbürgers, der in Köln Schutz sucht, blieb erfolglos, weil die deutschen Behörden ihn zu einem regulären Visaverfahren verpflichten. Dafür müsste der junge Mann aber wieder nach Russland reisen.
„Allein die Möglichkeit, dass der Petent bei Rückkehr in die Russische Föderation mit der Einziehung zum Militärdienst konfrontiert sein könnte, lässt keine Unzumutbarkeit erkennen“, steht in einem Brief des NRW-Integrationsministeriums an den Landtag, der dieser Redaktion vorliegt. Es handele sich bei der Heranziehung zum Wehrdienst „um ein nicht zu beanstandendes Vorgehen des Heimatstaates des Antragstellers“, heißt es.
Serdar Yüksel (SPD): „Wir schicken Männer zurück in einen Krieg gegen uns selbst“
Serdar Yüksel kritisiert diese Hürden scharf: „Es kann nicht sein, dass Menschen, die sich Putins Krieg entziehen wollen, keine Bleibe-Perspektive in Deutschland haben. Mit dieser Praxis schicken wir Männer zurück in den Krieg gegen uns selbst, gegen unsere Freiheit und Grundwerte.“ Es sei fast zynisch, so der Politiker: „Wir bekämpfen Putins Armee mit Geld und Waffen, wenn es aber darum geht, Russlands Armee ohne einen einzigen Schuss abzugeben, humanitär zu schwächen, entziehen wir uns der Verantwortung.“ Männer aus Russland, die sich gegen Putin stellten, benötigten eine schnelle Aufenthaltsperspektive.
Yuri Nikitin vom Verein Freies Russland NRW glaubt sich und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter derzeit in relativer Sicherheit: „Wir haben noch ein bisschen Zeit, bevor es wirklich gefährlich wird.“ „Allerdings“, schränkt er ein, „nehmen die Geheimdienste manchmal auch Menschen ins Visier, die nicht so bekannt sind, einfach, weil Moskau Angst und Schrecken verbreiten will.“