Elsdorf. Die Deutschland-Chefin von Microsoft und Ministerpräsident Wüst erklären, was hinter dem Milliarden-Investment in NRW steckt.
Als Hendrik Wüst am Montagnachmittag um kurz vor drei einen Blick in die Zukunft des Landes werfen soll, rückt er sicherheitshalber mit der Nase ganz dicht vor das aufgeklappte Notebook. „Der Rhein wird dann kurz am Kölner Dom gestaut“, staunt der NRW-Ministerpräsident beim Betrachten eines manipulierten Fotos, das echter wirkt als die jüngsten Photoshop-Fingerübungen von Prinzessin Kate.
Wüst hockt mit Marianne Janik, der Deutschland-Chefin des amerikanischen Software-Riesen Microsoft, im „KI-Mobil“. Das ist ein kleiner Van, der ab sofort 10.000 Schülern und Auszubildenden die Segnungen und Gefahren der Künstlichen Intelligenz näherbringen soll – inklusive Bildbearbeitung. Mit weiteren IT-Schulungen will Microsoft allein in NRW bis 2025 weitere 90.000 Fortbildungswillige erreichen.
„Niemand wird eine Technologie nutzen, niemand wird einer Technologie vertrauen, wenn die Beurteilungsfähigkeit nicht da ist“, sagt Janik. Die Zukunft fängt in den Köpfen potenzieller Anwender an, soll das wohl heißen. KI ist gleichwohl weit mehr als ChatGPT und Fake-Fotos.
Microsoft will 100.000 Menschen in NRW in KI schulen
Das „KI-Mobil“ mit Janik und Wüst an Bord ist am Montag direkt am Rand des Braunkohle-Tagebaus in Elsdorf geparkt. Die Aussichtsplattform dort über der Kraterlandschaft der sterbenden Kohleindustrie im rheinischen Revier nennt sich „Terra Nova“, zu Deutsch: neues Land. Und wer die Symbolik noch immer nicht kapiert hat, dem spendiert die Staatskanzlei die Tageslosung „Von der Kohle zur KI“. Außerdem hat Kommunalministerin Ina Scharrenbach (CDU) noch eine Alliteration auf Lager: „Aus einer Braunkohleregion wird eine Boomregion.“
Selten war regierungsamtliches PR-Geklingel jedoch so angebracht wie diesmal. Das Rheinische Revier ist Zentrum eines historisch wuchtigen Investitionspakets von Microsoft, das mit insgesamt 3,2 Milliarden Euro das größte der Firmengeschichte in Deutschland sein wird. In Bergheim und Bedburg sowie einem noch nicht genau ausgemachten dritten Standort im Rheinland sollen riesige Rechenzentren entstehen. Konkret bedeutet das: Jeweils 20 Hektar als eine Art begehbares Server-Dorf. Damit können gewaltige Datenmengen gespeichert und bereitgestellt werden, die Unternehmen für die Umstellung auf leistungsstarke KI-Anwendungen benötigen.
Im Umfeld der Microsoft-Rechenzentren sollen Tausende Jobs entstehen
Direkt in den Microsoft-Hallen werden „einige Hundert Arbeitsplätze“ geschaffen, kündigt Janik am Montag an. „Das viel, viel Spannendere ist das, was dann in diesem System entsteht“, fügt die Microsoft-Chefin hinzu. Es wird erwartet, dass Softwareentwickler und Forschungsinstitute die Nähe zu den neuen Rechenzentren suchen werden. „Der Industriestandort Nordrhein-Westfalen wird zur Heimat von KI in industrieller Anwendung“, hofft Wüst. Von neuen Digitalparks versprechen sich die Kreise Rhein-Erft und Neuss jeweils bis zu 2500 neue Arbeitsplätze. Anders als bei Tesla in Brandenburg gibt es dabei keine nennenswerten Proteste. Von „Applaus in der Bürgerversammlung“ berichten die Lokalpolitiker erstaunt.
Dass Microsoft ausgerechnet in die etwas trostloses Tagebau-Region nahe Köln investiert, hängt vor allem mit zwei großen Zufällen zusammen. Das auslaufende Rheinische Revier, das 2030 den letzten Kohlestrom produzieren soll, liegt direkt an der Kreuzung europäischer Datentrassen, die Amsterdam, Paris, Frankfurt und Stockholm versorgen. Das bedeutet: 60 Millionen Nutzer in einem Radius von 250 Kilometern.
Zudem bedient Microsoft in NRW bereits große Cloud-Kunden wie Bayer, Metro, Bertelsmann oder RWE. Mit dem Essener RWE-Konzern entsteht absehbar das, was man im Managerdeutsch „Win-Win“ nennen könnte, eine für beide Seiten gedeihliche Zusammenarbeit. Microsoft braucht für seine Rechenzentren Grundstücke und absehbar gigantisch viel grünen Strom. RWE wird hingegen für eine intelligente grüne Stromversorgung, die mit Netzschwankungen durch wind- und sonnenarme Stunden gut umgehen kann, modernste KI-Lösungen benötigen. Auch innovative Projekte zur Nutzung von Abwärme der Rechenzentren sind bereits im Blick.
Bei der Microsoft-Ansiedlung flossen keine Subventionen
Die Microsoft-Ansiedlung in NRW folgt einem ganz und gar unüblichen Drehbuch. Ein Weltkonzern kommt, ohne dass man ihn mit Steuergeld ködern oder ihm das Graue vom Himmel der Kohleregion versprechen musste. Zudem wurde nicht öffentlich gebettelt und gebarmt. Die Bürgermeister der betroffenen Gemeinden verhandelten vielmehr seit zweieinhalb Jahren in aller Stille mit den Microsoft-Managern. Sie waren, so ist zu hören, die eigentlichen Treiber und Ermöglicher. Ebenso wie der frühere NRW-Wirtschaftsminister und Ökonomie-Professor Andreas Pinkwart (FDP), der immer schon etwas größer dachte.
Vordringlicher Wunsch der Kommunalpolitik an die schwarz-grüne Landesregierung ist mittlerweile ein bescheidener: Die Rechenzentren-Hektar sollen nicht auf den allgemeinen Industrieflächenbedarf angerechnet werden, weil die Entwicklungsmöglichkeiten anderer Unternehmen ja nicht unter dem neuen US-Nachbarn leiden sollen.
Für Wüst ist die vor Ort entstandene Microsoft-Ansiedlung als Initialzündung für eine industrielle Neuerfindung der Region beispielhaft: „In der Vergangenheit hat man Strukturwandel oft aus Düsseldorf vom grünen Tisch gemacht und das ging flott, aber es ging nicht gut“, sagt der Ministerpräsident. Und: „Wir können im Ruhrgebiet eine Menge besichtigen, was groß gesagt wurde, aber nicht geklappt hat.“
Gewiss, Rechenzentren und unsichtbare Cloud-Leistungen sind trotzdem ein Abschied vom industriellen Erbe der Region. „Wenn Sie mal Lust haben auf eine Bergmann-Kapelle“, sagt Wüst zu Microsoft-Chefin Janik, „da haben wir noch welche.“