Düsseldorf. Der tief gestürzte ehemalige Kanzlerkandidat der Union erlebt eine mediale Wiederentdeckung. Was ist da plötzlich passiert?
Es ist alles noch da. Das gütig ausgeatmete „Neiiiiin“. Das vergnügte Schmunzeln, im Wechsel mit der nachdenklichen Vertikal-Stirnfalte. Auch dieser kumpelige Aufmerksamkeitsappell: „Ja, passense auf“. Und natürlich die rheinisch intonierte Sachverhaltsdarstellung, die immer ein wenig nach dem Beginn eines Witzes klingt („Selenskyj kommt nach Berlin, unterschreibt ein Abkommen, reist nach Paris, unterschreibt ein anderes…“).
Der frühere NRW-Ministerpräsident, CDU-Bundesvorsitzende und Fast-Kanzler Armin Laschet sitzt am Mittwochabend im ARD-Talksessel bei Sandra Maischberger. Es ist der vorläufige Höhepunkt der wundersamen medialen Wiederentdeckung eines Mannes, der im Bundestagswahlkampf 2021 noch zum ewigen Karnevalsprinzen runtergemacht wurde, dem man die Republik besser nicht anvertraue.
Inzwischen werden Laschets nachdenkliche Reden gegen die AfD von Millionen im Netz geklickt. Obwohl der 63-jährige Aachener nur noch einfacher Bundestagsabgeordneter im Auswärtigen Ausschuss ist. Der gelernte Jurist und Journalist, der vor dem Einschlafen historische Sachbücher liest, spricht auf den Bühnen des Landes über Parallelen zur Weimarer Republik und zeigt Unterschiede zwischen AfD und NSDAP auf. In langen Zeitungsinterviews beleuchtet er die Lage der Nation und sein Lebensthema Europa. Und im Morgenradio liefert er einen versöhnlichen Sound, den man in aufgeheizten Zeiten gar nicht mehr gewohnt ist.
Nach dem Höllensturz der Kanzlerkandidatur blieb Laschet einfach Laschet
In der Politik gab es bislang vornehmlich vier Arten des Umgangs mit einem Karriereknick. Man profiliert sich gegen den eigenen Laden (Methode Hofreiter). Man macht Reue zum Geschäftsmodell (Methode Guttenberg). Man erfindet sich komplett neu (Methode Röttgen) oder wird zur sendungsbewussten Ich-AG (Methode Lafontaine, Maaßen & Co.).
Laschet dagegen blieb Laschet. Er machte nach dem Höllensturz einer Bundestagswahlniederlage, die spätestens seit dem berühmten Lacher im Flutgebiet mit ihm ganz persönlich nach Hause ging, einfach weiter. Loyal zu seinem Parteivorsitzenden Friedrich Merz, der ihm im Konrad-Adenauer-Haus nachfolgte und die CDU auf einen „Leitkultur“-Kurs trimmte, der dem liberalen „Man muss auch Gönnen können“-Katholiken Laschet eigentlich immer fremd war.
Selbst dem CSU-Chef Markus Söder, der seine Kanzlerkandidatur nach Kräften sabotierte, ist Laschet nicht mehr gram. Er schmunzelt Söder-Polemiken bei Maischberger einfach weg. Für die nächste K-Fragen-Schlacht in der Union rät er bloß: „Ich glaube, alle haben gelernt: Man muss es einvernehmlich lösen, denn zerstrittene Parteien werden nicht gewählt.“ Dass Merz die Kanzlerkandidatur schon sicher hat, hört man bei Laschet freilich auch nicht heraus: „Wenn die Frage offen ist, ist jeder im Rennen.“
Auch der Corona-Kurs des „Lockerers Laschet“ ist heute nicht mehr des Teufels
Vor einigen Monaten gerät Laschet am Düsseldorfer Hauptbahnhof zufällig in eine Horde Fußballfans. Als die Menge am Bahnsteig den ehemaligen CDU-Chef erkennt, grölt sie „Armin Laschet wird Kanzler“ zur Melodie von „Seven Nation Army“. Laschet lacht über den freundlichen Spott, winkt und lässt sich fotografieren. Für einen, der lange von Personenschützern durch den Alltag gelotst wurde, eine neue Erfahrung.
Auch in den sozialen Netzwerken erntet er plötzlich von einflussreichen Stimmen mehr Lob als Kritik. Selbst sein abwägender Corona-Kurs, für den der „Lockerer Laschet“ heftig angefeindet wurde, ist nachträglich nicht mehr des Teufels. Stichwort: Schulschließungen.
Im Bundestagswahlkampf war vor allem eine Facette der Laschet-Persönlichkeit voll durchgeschlagen: das rheinisch Ungefähre, das bisweilen Schludrige und Undisziplinierte. Seine Stärken indes interessierten niemanden: das Ausgleichende, das unbedingt Authentische im politischen Selbstdarstellungsbetrieb oder seine europäisch-soziale Wertgebundenheit. Verkehrt sich nun der Bewertungsmaßstab ins Gegenteil?
Niemand in der Union beurteilt den Ukraine-Kurs des Kanzlers so differenziert
Niemand in der Union beurteilt heute die Ukraine-Politik des Kanzlers so differenziert wie Laschet, obwohl Olaf Scholz genau da angekommen ist, wo er doch hinwollte. „Dass er abwägt, halte ich für sehr gut. Dass er besonnen spricht in diesen Zeiten, halte ich auch für richtig“, lobt er. Dass der Grüne Anton Hofreiter den eigenen Kanzler öffentlich der Lüge bezichtigt, scheint jemanden wie Laschet dagegen ernsthaft zu erschüttern. Er hält so etwas für „schädlichen Umgang“.
Laschet war nie klare Kante, sondern immer Einerseits-andererseits. Er antwortet unentschlossen „gute Frage“, wenn ihm eine solche gestellt wurde. Oder er ringt mit Händen und Füßen um eine Position. In seiner Karriere war das meist ein Nachteil, in einer polarisierten und medial verhassten Welt wirkt es inzwischen fast wohltuend. „Wenn Politiker nur aufeinander eindreschen, wird das am Ende keine Sympathiepunkte geben“, glaubt Laschet.
Die Laschet-Biografie: Der Machtmenschliche
Die Journalisten Tobias Blasius (NRW-Korrespondent der Funke Mediengruppe) und Moritz Küpper (Redakteur und Moderator beim Deutschlandfunk) haben Armin Laschet im Herbst 2020 in der Biografie „Der Machtmenschliche“ auf 384 Seiten porträtiert (Klartext-Verlag, gebundene Ausgabe, 25 Euro). Laschet war ein früher Wegbereiter schwarz-grüner Annäherungen und Deutschlands erster Integrationsminister. Er fühlt sich dem europapolitischen Erbe Helmut Kohls verpflichtet und hält das Bewusstsein für die christlichen Wurzeln der C-Parteien wach. Blasius und Küpper haben Laschet über viele Jahre begleitet. Sie beschreiben Weg, Wesen und Werte eines Politikers, der sich üblichen Bewertungsmustern zu entziehen scheint. Viele im Buch beschriebene Stärken und Schwächen des Aacheners wurden im späteren Kampf um den CDU-Vorsitz, während der Corona-Krise und schließlich während seiner gescheiterten Kanzlerkandidatur für ein breites Publilum in Deutschland sichtbar.
Die blutleere Sprache des Kanzlers einerseits und der aggressive Alarmismus der Opposition andererseits öffnen erstmals wieder Räume für Mutterwitz. Laschet soll bei Maischberger seinen Papst erklären, der die Ukraine zum Schwenken der weißen Fahne aufgerufen hat. Ach Gott, früher hätten sich Päpste beim Angelus am Sonntag um 12 Uhr geäußert und „vorbereitete Sätze für Frieden überall irgendwo“ adressiert. „Jetzt fangen Päpste an, Interviews zu geben.“ Auf Laschet-Art wirbt er um Verständnis für den Pontifex-Pazifismus: „Ich glaube, ein Papst kann nicht reden wie Frau Strack-Zimmermann.“
Wer Armin Laschet in diesen Wochen beobachtet, wird an dessen Lieblingspassage aus der Operette „Fledermaus“ erinnert: „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.“