Brüssel/Berlin. Die EU-Kommissionschefin betreibt ein Verwirrspiel um ihre Pläne zur Europawahl. Doch das Rätsel ist gelüftet. Wie sind ihre Chancen?
Gut vier Monate vor der Europawahl macht Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aus einer der wichtigsten Personalfragen der Europapolitik noch immer ein Geheimnis: Wird die 65-jährige CDU-Politikerin für eine zweite Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin antreten – und im Erfolgsfall bis Ende 2029 eine der mächtigsten Frauen Europas sein? Die Niedersächsin schweigt weiter. „Die Entscheidung ist noch nicht gefallen“, lautet die Erklärung, die enge Vertraute verbreiten. Aber das ist ein zunehmend fragwürdiges Täuschungsmanöver für die Öffentlichkeit. Tatsächlich steht ihre Kandidatur längst fest. Das „Geheimnis“ ihrer erneuten Bewerbung für den EU-Topjob soll aber offiziell erst am 19. Februar in Berlin gelüftet werden, nur zwei Wochen vor Ablauf der internen Frist. Dann, so bestätigt es eine CDU-Sprecherin, treffen sich Vorstand und Präsidium der Christdemokraten in Berlin zur Sitzung gemeinsam mit von der Leyen.
Der Plan: Bei der Sitzung werde die CDU-Spitze die Christdemokratin in ihrem Beisein förmlich als Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei (EVP), der christdemokratischen Parteienfamilie Europas, vorschlagen, heißt es in CDU-Kreisen in Brüssel und Berlin. Offiziell bestätigt wird die Ausrufung der Kandidatur derzeit auch von der CDU-Zentrale noch nicht – die Dramaturgie soll nicht gestört werden. „Spekulationen kommentieren wir derzeit nicht“, sagte die CDU-Sprecherin. Dementiert wird nichts, denn der Fahrplan steht: Wenn sich nach der Kür in Berlin zwei weitere nationale Parteien der EVP für von der Leyen aussprechen, was zu erwarten ist, dürfte ein EVP-Parteitag am 6. und 7. März in Bukarest die Kommissionspräsidentin formell als Spitzenkandidatin für die Europawahl vom 6. bis 9. Juni nominieren. Gegenkandidaten sind bislang nicht in Sicht.
Von der Leyen ist überraschend Präsidentin der Kommission geworden
„Wenn von der Leyen offiziell Ja gesagt hat, ist sie sicher die EVP-Kandidatin – mit guten Chancen auf eine Wiederwahl als Präsidentin“, heißt es in der Brüsseler EVP. Sie bewirbt sich nur um das Präsidentenamt, nicht um ein Parlamentsmandat. Darauf hatte sie im vorigen Herbst in ihrem alten CDU-Heimatverband Niedersachsen ausdrücklich verzichtet. Dennoch würde sie den Titel einer Spitzenkandidatin zur Europawahl erhalten. CDU-Chef Friedrich Merz und CSU-Chef Markus Söder hatten schon vor vielen Monaten klargemacht, dass die Union von der Leyen unterstützen wird. Söder bekräftigte diese Woche in Brüssel: „Wir glauben, dass sie die richtige Spitzenkandidatin ist für die anstehende Europawahl.“ Und auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dürfte der Deutschen, mit dem Segen der Koalition, beim entscheidenden EU-Gipfel Rückendeckung geben.
Von der Leyen war 2019 auf Initiative von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron überraschend als Kompromisskandidatin zur Präsidentin der Kommission gewählt worden, sie gab dafür ihr Amt als deutsche Verteidigungsministerin auf. Die Kommission übt auf EU-Ebene viele Aufgaben einer Regierung aus, nur sie kann Gesetzesinitiativen ergreifen und den Haushalt aufstellen, zudem kontrolliert sie die Einhaltung von EU-Recht in den Mitgliedstaaten.
Laut EU-Regeln muss ein Präsident oder eine Präsidentin im Licht des Europawahlergebnisses erst von den EU-Regierungschefs einmütig vorgeschlagen werden, was noch Ende Juni erfolgen könnte. Dann muss das EU-Parlament im Juli den Vorschlag mit Mehrheit bestätigen. Beides ist bei von der Leyen wahrscheinlich, aber nicht garantiert; im Parlament wurde sie beim letzten Mal nur mit knapper Mehrheit gewählt. Immerhin aber wird die EVP laut Umfragen bei der Wahl des Europäischen Parlaments im Juni ihre Stellung als stärkste Kraft verteidigen können, das dürfte von der Leyens Ausgangsposition in den anstehenden Personalverhandlungen stärken. Und für sie spricht, dass sie bereits bestens in dem schwierigen Top-Job eingearbeitet ist.
Späte Kandidatur könnte mit „Leitlinien zu ethischen Standards“ zusammenhängen
Eigentlich hatte sich von der Leyen schon 2023 „in der zweiten Jahreshälfte“ zu ihrer Kandidatur äußern wollen. Ihre Vertrauten begründen ihr monatelanges Zögern auch damit, dass sie so lange wie möglich als überparteiliche Präsidentin auftreten wolle und nicht als Wahlkämpferin oder Chefin auf Abruf. In den nächsten Wochen werden schließlich noch wichtige Gesetzesvorhaben in Brüssel zwischen Parlament, Rat und Kommission verhandelt, heißt es. Seit der Jahreswende hat aber die Ungeduld in ihrer Partei, in der Kommission und unter EU-Diplomaten stark zugenommen, der Druck zu einer Klärung ist seitdem groß.
Am Mittwoch beriet die EU-Kommission in eigener Sache zu Verhaltensregeln für die 26 Kommissare und die Präsidentin im Europawahlkampf, von der Leyen legte dafür „Leitlinien zu ethischen Standards“ vor. Mitglieder der EU-Kommission sollen für ihren Wahlkampf weder ihr Büroteam noch den Reiseetat nutzen können. Je später von der Leyen also ihre Bewerbung einreicht, desto länger kann sie noch auf Personal und Infrastruktur der Kommission ungehindert zugreifen – und ist nicht von der Unterstützung durch die EVP abhängig. Neben von der Leyen will auch EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit ins Rennen um den Präsidentenposten gehen, der Luxemburger wird aller Voraussicht nach Spitzenkandidat bei den Sozialdemokraten. Ambitionen lässt auch Binnenmarktkommissar Thierry Breton aus Frankreich erkennen.
Es gibt noch ein internes Problem
Bei jüngsten Auftritten klangen Äußerungen der Kommissionspräsidentin so, als wolle sie die Linie für eine zweite Amtszeit skizzieren: Demnach würde sie an den großen Themen wie dem Green Deal, dem digitalen Wandel oder einer stärkeren Widerstandsfähigkeit Europas festhalten. Doch hätte sie auch die weitere Unterstützung der Ukraine abzusichern und deren Aufnahme in die EU vorzubereiten. Das schwache Wirtschaftswachstum auf dem Kontinent, die zunehmende illegale Migration und die ausufernde Bürokratie wären weitere Baustellen. Womöglich müsste sie auch Konflikte mit einem US-Präsidenten Donald Trump bestehen.
Vorher muss von der Leyen noch ein internes Problem klären: Ihre EVP erarbeitet derzeit ein Europa-Wahlprogramm, das in Teilen deutlich von der Linie von der Leyens abweicht. Die Christdemokraten legen Wert auf eine eigene Handschrift im Wahlkampf: So will die EVP laut ersten Entwürfen, dass das europaweite Verbot von neuen Pkw mit Verbrennermotor ab 2035 wieder gekippt wird – beschlossen wurde das Verbot voriges Jahr auf Vorschlag der Kommission.