Essen. Tausende Menschen demonstrieren für Demokratie und gegen die AfD. Doch das allein reicht nicht. Die Bundespolitik muss besser werden.
Auch an diesem Wochenende gehen im Ruhrgebiet und in vielen anderen Regionen Deutschlands wieder tausende Menschen auf die Straße. Sie demonstrieren nicht für subventionierten Agrardiesel, nicht für mehr oder weniger Bürgergeld, nicht gegen ein misslungenes Heizgesetz, nicht für mehr Tierwohl, nicht gegen die Wohnungsnot oder für eine stärkere Bundeswehr.
Nein, es geht um mehr, denn die Menschen demonstrieren für das große Ganze. Für das, was dieses Land seit dem Zweiten Weltkrieg ausmacht – die Demokratie. Oh, wie langweilig, mag man jetzt denken, wie abgehoben, wie theoretisch, wie weit weg vom wirklichen Leben, vom echten Alltag. Doch die Zahl derer, die derart argumentieren, wird immer kleiner. Und diejenigen, die laut und offen für die Demokratie kämpfen, werden immer mehr. Gut so!
Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit
Denn, so banal es klingen mag, so oft es schon gesagt wurde: Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit, es gibt sie nicht zum Nulltarif. Sie muss immer wieder gegen deren Feinde verteidigt werden. „Wer sich nicht traut, für seine Freiheit einzutreten, wird zum Schwarzfahrer unserer freiheitlichen Demokratie“, hat der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker einmal gesagt.
Damals dachte er noch nicht an die AfD, doch er hatte bei dieser Aussage schon diejenigen im Blick, die vom großen Umsturz und der eigenen, alleinigen Macht träumten: Unabhängige Gerichte und freie Wahlen gehören abgeschafft, weg mit dem Demonstrationsrecht, mit freier Meinungsäußerung, in den Mülleimer mit der Gewaltenteilung! Deutschland den Deutschen, Ausländer raus! Rechtsextremes Gedankengut gab es immer.
Allerdings, und das erleben wir heute wieder, darf es keiner der Nazis in der AfD laut aussprechen. Das muss erstmal im kleinen Kreis bleiben, es soll ja noch keiner merken. Und doch, sehr, sehr viele Menschen haben es gemerkt. Sie stehen auf vom Sofa, wie wir es in einem Kommentar an dieser Stelle schon einmal formuliert haben.
Die Straße allein wir die Demokratie nicht retten
Die Demonstrationen für unsere Demokratie sind eine gute Nachricht. Es gibt jedoch noch eine zweite Nachricht, und die ist nicht ganz so gut: Die Straße allein wird die Demokratie nicht retten. Dazu brauchen wir eine deutlich bessere, klarere, verantwortungsvollere, ehrlichere, handwerklich sauberere Regierungspolitik, als wir sie in den vergangenen Jahren erleben mussten. Das gilt vor allem für die beiden in vielen Belangen enttäuschenden Ampel-Jahre, das gilt auch für so manches Jahr der CDU-geführten großen Koalition.
Denn natürlich tragen SPD, Grüne und FDP aktuell eine erhebliche Mitverantwortung für das Erstarken der AfD. Interne Zerstrittenheit, mangelnde Transparenz, verwirrende Kommunikation, schlechte Entscheidungen, mangelhafte Umsetzung, fehlende Berechenbarkeit - die grundsätzlichen Mängel und die konkreten Beispiele wie das Heizungsgesetz-Chaos, die verfassungswidrige Finanzplanung, die unausgegorene Bürgergeldreform oder das Bürokratie-Monster Kindergrundsicherung sind vielfach thematisiert und hinlänglich beschrieben worden.
Die aktuelle Solidarisierung lenkt den politischen und gesellschaftlichen Fokus etwas weg vom Ampel-Versagen. Doch das darf den Druck auf die Regierungsparteien nicht mindern. Diese müssen die Verschnaufpause zur Fehlerkorrektur, wahrscheinlich sogar zu einer grundsätzlichen Selbstbesinnung nutzen. Dazu gehört es vor allem, ideologischen Ballast abzuwerfen. Dies gilt beispielhaft für die zu lange Untätigkeit in der Migrationspolitik, die allen Umfragen zufolge seit mehreren Jahren ein zentrales und zugleich beunruhigendes Thema für die Menschen in diesem Land ist. Wer an Leib und Leben bedroht oder unverschuldet in Not geraten ist, soll Hilfe bekommen. Auch das gehört zum demokratischen Konsens in der Flüchtlings- wie in der Sozialpolitik.
Doch die Regeln müssen klar sein, Regelverstöße müssen Folgen haben. Das klingt erst einmal abstrakt, betrifft letztlich aber alle Bereiche des Zusammenlebens. Den Ordnungsrahmen muss die Politik vorgeben. Professionell, nachvollziehbar, unideologisch, konsequent, verantwortungsbewusst. Das ist schwierig, aber es hat nie jemand behauptet, dass Demokratie einfach ist.