Berlin. Kurz nach dem Start bricht ein Kabinenteil einer Boeing ab. Folge: Flugverbot. Was das mit Herstellern, Airlines und Passagieren macht.
Nach zehn Minuten ist alles vorbei. Zehn Minuten können sich freilich angsteinflößend lang hinziehen, wenn jemand um sein Leben bangt. Stephanie King nimmt ihr Handy und schreibt ihrer Mutter und ihrem Freund, „dass etwas los ist, dass ich Angst habe und dass ich sie liebe“.
King war in der Boeing 737 Max 9, bei der am Freitag mitten in einem US-Inlandsflug plötzlich ein Teil abriss und danach ein Loch in der Kabine klaffte. Auch eine Beinahe-Katastrophe ist ein Trauma, für Passagiere, für die Airline, für den Flugzeughersteller, für die ganze Branche.
King sitzt in Reihe 12. Der Zwischenfall ereignet sich in ihrem Rücken. Die Frau weiß zunächst nicht, was los ist. Sie hört Menschen schreien und weinen. Dem Sender CNN erzählt sie, „es war absolut surreal.“
Erst Schrecken, dann unheimliche Stille
Als die Feuerwehrleute nach der Notlandung etwa zehn Minuten später in die Maschine kommen, um Verletzte zu bergen und um die Boeing zu räumen, verfallen die Menschen emotional ins andere Extrem: „Alle waren super ruhig“, erzählt sie. Unheimlich still. Unwirklich.
Schnell meldet sich Alaska Airlines bei ihr und kündigt eine Entschädigung an. Firmenchef Ben Minicucci erklärt, „mein Mitgefühl gilt denen, die auf diesem Flug waren – es tut mir so leid, was Sie erlebt haben“. Soweit die Affekthandlungen.
Behörden verhängen Flugverbot
Indes beginnen die Passagiere, Fragen zu stellen. King empfindet es als beunruhigend, „dass es bei diesem speziellen Flugzeugtyp so viele Probleme gab“. Sie hoffe, dass etwas unternommen werde, „damit so etwas nicht noch einmal passiert“. Dieses Mal lief es glimpflich ab, keine Toten, keine Schwerverletzten. „Beim nächsten Mal vielleicht nicht.“
So schnell wird es kein nächstes Mal geben. Am Samstag ordnet die amerikanische Luftfahrtbehörde FAA ein vorübergehendes Flugverbot für mehr als 170 Maschinen des Typs Boeing 737 Max 9 an. Jeder Jet wird umgehend überprüft, bevor er wieder in den Betrieb geht. Dies gelte für Maschinen, die von US-Fluggesellschaften betrieben würden oder auf dem US-Territorium unterwegs seien. Schon am Samstag gibt es in den USA Dutzende Flugausfälle.
Dem Vernehmen nach sind weltweit etwa 215 Boeing-737-Max-9-Flugzeuge im Einsatz. Allein United Airlines betreibt 79. Die Europäische Agentur für Flugsicherheit (EASA) stellt klar, dass keine Fluggesellschaft aus einem EU-Mitgliedstaat „derzeit ein Flugzeug in der betroffenen Konfiguration betreibt“.
Auf die Max 9 setzen die panamaische Fluggesellschaft Copa Airlines, Aeromexico, Turkish Airlines, Flydubai und Icelandair. Am Sonntag gibt Turkish Airlines bekannt, dass sie die fünf Max-9-Flugzeuge ihrer Flotte bis auf Weiteres am Boden lässt. Aeromexico und Copa Airlines wollen solche Maschinen ebenfalls nicht mehr starten lassen. Icelandair beteuert, keine seiner Boeing 737 Max 9 weise die in der FAA-Anordnung angegebene Flugzeugkonfiguration auf. Glücklich, wer wie die Lufthansa kein Flugzeug des Unglückstyps in seiner Flotte hat.
Glück im Unglück
Die Untersuchung durch die Unfallermittlungsbehörde NTSB steht noch aus. Sie wird – vermutlich monatelang – prüfen, warum auf dem Flug von Portland in Oregon nach Kalifornien kurz nach dem Start mit großem Knall ein ganzes Fenster und die Verkleidung weggerissen werden. Den Flugdaten zufolge befindet sich die Boeing gerade in mehr als 4.800 Meter Höhe.
Glück im Unglück: Der Fenstersitz ist unbesetzt. Ein Jugendlicher auf dem Mittelsitz trägt leichte Verletzungen vom plötzlichen Druckabfall davon. Das ist alles. Die Maschine, samt den 171 Passagieren und sechs Crew-Mitgliedern, kehrt zum Flughafen in Portland zurück.
Harter Rückschlag für Boeing
Boeing stimmt den Entscheidungen der Behörden zu, bedauert den Zwischenfall und sichert seine Unterstützung zu. „Sicherheit hat für uns oberste Priorität“, so Unternehmenssprecherin Jessica Kowal.
Für ihre Firma ist es gleichwohl ein herber Rückschlag. Die Max, ein Mittelstreckenflugzeug, ist bei US-Fluggesellschaften beliebt; auf dem Heimatmarkt eignet sie sich bestens für Inlandsflüge. Die Max ist das meistverkaufte Flugzeug in der Geschichte von Boeing. Die mehr als 4.500 ausstehenden Bestellungen machen einen Löwenanteil des Auftragsbestandes aus.
Die Max ist in vier Varianten mit den Nummern sieben bis zehn erhältlich. Die Maschine des Unglückstyps Max 9 kann je nach Sitzkonfiguration bis zu 220 Passagiere transportieren.
Probleme mit Technik und Qualität
Alarmierend ist, dass es immer wieder Probleme gab, darunter zwei wirklich schlimme Notfälle 2018 und 2019. Bei zwei Abstürzen mit der Max 8 in Indonesien und Äthiopien starben 346 Menschen. Als Hauptursache galt ein fehlerhaftes Steuerungsprogramm. Boeing hat den Typ überarbeitet und die Wiederzulassungen erlangt.
Solche Unfälle verursachen nicht nur einen Rufschaden und erschüttern das Vertrauen der Airlines und ihrer Kunden. Sie werfen ein Unternehmen auch ökonomisch zurück. Das Betriebsverbot der Max war laut amerikanischen Medien eine der teuersten Unternehmenstragödien. Sie belastete die Bilanzen des Herstellers mit gut 20 Milliarden Dollar. Produktion und Auslieferung stehen, die Bestellungen stagnieren, die Kosten aber laufen weiter.
Es drohen posttraumatische Belastungsstörungen
Probleme mit Technik und Qualität plagen Boeing seit Jahren. Erst letzten Monat forderte das Unternehmen die Fluggesellschaften auf, Max-Flugzeuge auf eine mögliche lockere Schraube im Rudersteuerungssystem zu untersuchen. Gegenüber Investoren, Analysten und Fachjournalisten beteuert Boeing-Chef Dave Calhoun, „wir sehen eine erhöhte Stabilität und Qualitätsleistung in unseren eigenen Fabriken, aber wir arbeiten daran, die Lieferkette auf die gleichen Standards zu bringen“.
Ob dies Passagiere wie Stephanie King beruhigen kann? Fast auf den Tag vor 15 Jahren, am 15. Januar 2009, landete ein Flugzeug im Hudson River in New York; ein Wundermanöver, das allen 155 Menschen an Bord das Leben rettet und Kapitän Sullenberger Heldenstatus verschafft. Trotz eines Happy Ends leiden viele Passagiere bis heute an posttraumatischen Belastungsstörungen – während andere das Fliegen lernten. Auch eine Art, die Angst zu bewältigen.