Ankara. Die Zahl der Asylbewerber aus der Türkei hat sich verdoppelt. Vor allem Kurden kehren ihrem Heimatland den Rücken. Das sind die Gründe.
Der türkische Staatschef Erdogan zementiert seine Macht und geht drakonisch gegen Kritiker vor. Wegen der zunehmenden Repression und der Wirtschaftsmisere suchen jetzt immer mehr Türkinnen und Türken Asyl in Europa, vor allem in Deutschland.
Laut Statistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) haben in diesem Jahr bis Ende November 55.345 türkische Staatsangehörige in Deutschland Asyl beantragt. Das waren mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. 2022 kamen 23.938 Asylbewerber aus der Türkei nach Deutschland. Zum Vergleich: 2015 suchten lediglich 1500 türkische Staatsbürger in Deutschland Asyl. Allein im Oktober 2023 stellten rund 9000 Menschen aus der Türkei einen Asylantrag in Deutschland. Damit lag die Türkei als Herkunftsland bei den Asylanträgen auf dem zweiten Platz nach Syrien und noch vor Afghanistan.
Mit steigenden Antragszahlen geht allerdings die Anerkennungsquote zurück. 2019 erhielten noch 47,4 Prozent der türkischen Asylsuchenden Schutzstatus. Im vergangenen Jahr lag die Anerkennungsquote bei knapp 28 Prozent. In den ersten acht Monaten dieses Jahres waren es nur noch 15 Prozent. Offenbar legen die Asylbehörden immer strengere Maßstäbe an – oder den Geflüchteten gelingt es in immer weniger Fällen, ihr Schutzbedürfnis glaubhaft zu belegen.
85 Prozent der Asylbewerber aus der Türkei sind Kurden
Die weitaus größte Gruppe der im Ausland Asyl suchenden türkischen Staatsbürger sind Kurden. Ihr Anteil an den Asylanträgen beträgt etwa 85 Prozent. Die Türkei erkennt die rund 15 Millionen Kurden nicht als ethnische Minderheit an. Sie werden in vielerlei Hinsicht benachteiligt, vor allem beim Gebrauch ihrer Muttersprache. Tausende sitzen wegen angeblicher Verbindungen zur Terrororganisation PKK in Haft. Kurdischen Asylbewerbern fällt es aber häufig schwer, eine konkrete politische Verfolgung nachzuweisen. Deshalb ist die Anerkennungsquote besonders gering. Nach Angaben des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg wurden im vergangenen Jahr 88 Prozent der Asylanträge türkischer Kurden abgelehnt.
Trotz sinkender Aussichten auf einen Schutzstatus nimmt die Zahl der Antragsteller aber weiter zu. Ein Grund ist die Wirtschaftsmisere. Die Inflation, 62 Prozent im November, zehrt an den Einkommen. Der staatliche Mindestlohn, mit dem vier von zehn Beschäftigten auskommen müssen, beträgt umgerechnet 358 Euro. Die Armutsgrenze für eine vierköpfige Familie liegt bei 1100 Euro.
Vor allem in der zweiten Hälfte dieses Jahres ist die Fluchtwelle aus der Türkei stark angeschwollen. Das dürfte mit dem 28. Mai 2023 zu tun haben. An jenem Sonntag gewann Recep Tayyip Erdogan eine weitere Amtszeit als Staatspräsident – entgegen den Vorhersagen mancher Demoskopen und den Hoffnungen der Opposition, die ein Ende der mehr als 20-jährigen Ära Erdogan erwarteten. Doch dieser Wunsch erfüllte sich nicht.
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Gründe für den Exodus: Schlechte Arbeitsbedingungen, politischer Druck
Erdogan sitzt nach der gewonnenen Wahl fester denn je im Sattel und baut seine Macht weiter aus. Unnachsichtig gehen Polizei und Justiz gegen Kritiker der Regierung vor. So setzte vor zwei Wochen eine Kammer des Landgerichts Ankara kurzerhand den gesamten Vorstand der türkischen Ärztekammer (TTB) ab. Der Vorwurf: „Terroristische Propaganda“. Unter den Abgesetzten ist auch die Kammerpräsidentin Sebnem Korur Fincanci, eine international angesehene Professorin für Forensik. Sie hatte sich in den vergangenen Jahren immer wieder Folterpraktiken Und andere Menschenrechtsverletzungen in der Türkei angeprangert. Damit zog sie den Zorn Erdogans auf sich.
2022 haben nach Angaben der Ärztekammer 2685 Medizinerinnen und Mediziner die Türkei verlassen. In diesem Jahr waren es bis Ende September 1649. Gründe für den Exodus sind schlechte Arbeitsbedingungen, aber immer häufiger auch politischer Druck. Das legt der starke Anstieg der Zahlen seit 2016 nahe. In jenem Jahr putschten Teile des Militärs gegen Erdogan. Der dilettantisch vorbereitete Coup wurde binnen Stunden niedergeschlagen. Als Drahtzieher des Putschversuchs sieht Erdogan Fethullah Gülen, einen islamischen Exil-Prediger. Gülen lebt seit 1999 im US-Bundesstaat Pennsylvania.
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Erdogan reagierte mit einer beispiellosen „Säuberungswelle“. Mehr als 130 000 Staatsbedienstete, darunter Richter und Staatsanwälte, Lehrer und Verwaltungsbeamte, Polizisten und Soldaten, wurden wegen angeblicher Gülen-Verbindungen entlassen. Zehntausende kamen hinter Gitter. Der Putschversuch liegt nun schon siebeneinhalb Jahre zurück. Aber die „Säuberungen“ gehen unvermindert weiter. Keine Woche vergeht ohne Festnahmen angeblicher Gülen-Anhänger. Sie werden von der Regierung und der regierungstreuen Justiz pauschal als Terroristen verdächtigt. Viele der Verfolgten haben in der Türkei keine Lebensgrundlage mehr. Sie verlieren außer ihrer Arbeit auch ihre Rentenansprüche und Krankenversicherung. Aussicht auf einen neuen Job haben die meisten nicht.
Griechenland als begehrter Zufluchtsort
Es sind Menschen wie der 55-jährige Nesim. Seine vollen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen. In der Türkei arbeitete er als Richter. Vor zwei Monaten floh Nesim mit seiner Frau aus der Türkei nach Griechenland. Ein guter Freund hatte ihn vor seiner drohenden Festnahme gewarnt. Ihm werden Kontakte zur Gülen-Bewegung vorgeworfen. Nesim bestreitet das. In Athen gibt es ein großes Netzwerk, das politische Flüchtlinge aus der Türkei unterstützt. Allerdings streckt auch der türkische Geheimdienst in Griechenland seine Fühler aus und beschattet Regimekritiker. Deshalb will Nesim weiter, in ein westeuropäisches oder skandinavisches Land. „Da fühlen wir uns sicherer“, sagt er.
Migrationsforscher erwarten, dass die Zahl der Asylsuchenden aus der Türkei weiter steigen wird. Denn der politische Druck dürfte zunehmen. Nach seinem Wahlsieg arbeitet Erdogan nun an einer Verfassungsänderung. So will er islamische Werte in Staat und Gesellschaft noch tiefer verankern. Oppositionelle fürchten, dass die Türkei auf eine islamistische Diktatur zusteuert. Das könnte das eine neue Fluchtwelle auslösen.