Berlin. Ihr Volk wurde vom IS im Irak brutal verfolgt, nun soll eine 63-jährige Jesidin abgeschoben werden – zurück in das Land der Täter.
Es ist der 14. September, ein Donnerstag, als Gule Hassan Ido mit ihrem Sohn Jalenk Yezdin das Gebäude betritt, in dem das Ausländeramt des nordrhein-westfälischen Kreises Mettmann untergebracht ist. Die 63-jährige Jesidin hat einen Termin zur Verlängerung ihrer Duldung bekommen. In der Behörde wartet aber die Polizei auf sie. Die Beamten durchsuchen den Sohn, nehmen Frau Ido in Gewahrsam, bringen sie zum Flughafen in Düsseldorf, wo sie noch am gleichen Tag in den Irak abgeschoben werden soll. Doch die 63-Jährige weigert sich, in das Flugzeug einzusteigen – wehrt sich vehement.
Die Abschiebung wird abgebrochen. Frau Ido wird nach Ingelheim in Rheinland-Pfalz gebracht. Dort sitzt sie seit dem 14. September in einem Abschiebegefängnis. So wie ihr geht es derzeit vielen Jesiden in Deutschland. Sie sollen in das Land zurückgebracht werden, in dem die Terroristen des sogenannten Islamischen Staats (IS) einen Völkermord an den Jesiden verübt haben. Im Sommer 2014 hatte der IS große Teile des Irak und Syriens überrollt. Die Fanatiker errichteten ein Terror-Kalifat, in dem kein Platz für all diejenigen war, die sie als Ungläubige brandmarkten.
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Besonders brutal ging der IS gegen die Jesiden vor – Angehörige einer religiösen Minderheit, die in den Augen der Terroristen Teufelsanbeter sind. Im August 2014 eroberte der IS die Shingal-Region im Nordwesten des Irak, die Heimat vieler Jesiden. Die Fanatiker ermordeten unzählige jesidische Menschen und entführten Tausende Frauen und Kinder. Bis heute gelten fast 3000 Frauen und Kinder als vermisst. Hunderttausende Jesiden leben noch immer als Binnenflüchtlinge in der Autonomen Region Kurdistan im Norden des Irak – viele von ihnen in den mehr als zwei Dutzend Flüchtlingscamps, die nach 2014 aufgebaut wurden.
Anerkennungsquote für Jesiden nur noch bei 46,3 Prozent
Am 19. Januar 2023 stimmte der Bundestag einem gemeinsamen Antrag der Ampelfraktionen und der Unionsfraktion zu, in dem gefordert wird, die Verbrechen des Islamischen Staats an der jesidischen Minderheit als Völkermord anzuerkennen. In diesem Antrag wird auch an die Bundesregierung appelliert, den Jesiden „weiterhin unter Berücksichtigung ihrer nach wie vor andauernden Verfolgung und Diskriminierung im Rahmen des Asylverfahrens Schutz zu gewähren“. Im Herbst malte das Auswärtige Amt ein weiterhin düsteres Bild von der Sicherheitslage im Irak. Für den Zentralirak gilt eine Reisewarnung.
Im Land gebe es immer noch Gruppen von IS-Kämpfern, von denen unverändert Gefahr ausgehe. Selbst vor Reisen in die vergleichsweise sichere Autonome Region Kurdistan wird abgeraten: „Es besteht eine anhaltend erhöhte Gefahr von Terroranschlägen.“ Trotzdem ist die Anerkennungsquote für jesidische Asylbewerber in den vergangenen Jahren dramatisch gesunken. Im Jahr 2016 lag diese Quote noch bei über neunzig Prozent. In diesem Jahr liegt sie nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bei 46,3 Prozent.
In den Jahren der IS-Terrorherrschaft reichte es aus, Jeside zu sein, um einen Flüchtlingsschutz oder Asyl zu bekommen. „Diese Gruppenverfolgung wurde Endes des Jahres 2017 angesichts der Verbesserung der Lage in den Wohngebieten der Jesidinnen und Jesiden nicht mehr angenommen“, teilt das BAMF auf Anfrage unserer Redaktion mit. Rund zehn Prozent der etwa 300.000 Jesiden in Deutschland haben deswegen lediglich einen Duldungsstatus und können jederzeit abgeschoben werden. Deswegen sitzt Gule Hassan Ido derzeit im Abschiebegefängnis in Ingelheim.
BAMF sieht keine Gefahr für Gule Hassan Ido in Kurdistan
Die 63-Jährige ist erst Anfang 2019 nach Deutschland gekommen. Sie stammt aus Khanke, einer Kleinstadt nahe Dohuk in Kurdistan. Ihre acht Kinder, vier Söhne und vier Töchter, leben teilweise schon seit vielen Jahren in Deutschland. Ihr Sohn Jalenk Yezdin betreibt einen Kiosk, ihr Sohn Reka Yezdin ist Tierarzt und hat mittlerweile einen deutschen Pass. Sie hätten für ihre Mutter aufkommen können. Die beiden sitzen drei Wochen, nachdem ihre Mutter abgeschoben werden sollte, in der Wohnung von Jalenk in Düsseldorf.
Reka Yazdin sagt, seiner Mutter gehe es im Gefängnis zwar gesundheitlich gut, sie sei aber psychologisch angeschlagen. „Ich verstehe nicht, warum sie so hart gegen meine Mutter vorgehen“, sagt Reka. „Wenn sie uns informiert hätten, dass sie jetzt raus aus Deutschland muss, hätte ich sie lieb nach Hause gebracht.“ Womöglich hat Gule Hassan Ido den Fehler begangen, in der Befragung durch das BAMF zu ehrlich zu sein. In den Interviews im Sommer 2019 gab sie an, sie habe noch immer Angst vor dem IS und den Terroristen, die sie wegen ihres Glaubens umbringen wollten.
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Für Jesiden gebe es keine Sicherheit im Irak, erzählte sie. Konkrete Beispiele für diese Bedrohung konnte sie aber nicht nennen. Sie habe sich Sorgen um die Kinder in Deutschland gemacht. Der Behörde reicht das nicht, ihr Asylantrag wird abgelehnt. Eine Klage gegen die Ablehnung lehnt das Verwaltungsgericht Düsseldorf Ende September 2022 ab. Eine „unmenschliche und erniedrigende Behandlung droht der Klägerin“ nicht, heißt es in dem Urteil.
Einige Jesiden traten vor dem Bundestag in den Hungerstreik
So wie Gule Hassan Ido ergeht es derzeit vielen Jesiden in Deutschland. „Fast alle Bundesländer schieben geduldete Jesidinnen und Jesiden wieder vermehrt in den Irak ab und damit in das Land der Täter des Völkermords. Das ist menschenverachtend“, sagt Holger Geisler, Geschäftsführer bei „Ezidxan International Aid“ – einer Organisation, die sich für Jesiden einsetzt. Geisler hat etliche Fälle gesammelt. Darunter ist auch ein junger Mann in Herford, der von der Ausländerbehörde einbestellt wurde, um seine Arbeitserlaubnis zu verlängern, und dann in Abschiebehaft genommen wurde.
Es gibt viele weitere Beispiele – eine Familie etwa, deren Sohn elf unentschuldigte Fehlstunden in der Schule hat, weswegen ein „Integrationswille“ nicht feststellbar sei. Oder eine junge Frau, die mit 17 Jahren im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland gekommen ist und nun mit 21 Jahren mitsamt ihrem Baby abgeschoben werden soll. Einige Jesiden traten im Oktober vor dem Bundestag in den Hungerstreik, um gegen die vermehrten Abschiebungen zu demonstrieren. Grünen-Politiker wie Anton Hofreiter, Vorsitzender des Europaauschusses im Bundestag oder Irene Mihalic, die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünenfraktion, fordern von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), einen Abschiebestopp für Jesidinnen und Jesiden.
„Viele Jesiden haben traumatische Erfahrungen und Verluste erlitten, darunter Entführung, Zwangskonvertierung, Versklavung und den Verlust von Familienmitgliedern“, sagt Irfan Ortac, Vorsitzender des Zentralrats der Jesiden. Eine Abschiebung in den Irak könne die erlittenen Traumata verschlimmern, warnt er. Doch bislang sind die Proteste vergebens. Es scheint, als solle die neue deutsche Härte in der Asylpolitik auf dem Rücken der Schwächsten exerziert werden.
Bis Ende September 110 Menschen in den Irak abgeschoben
Das Innenministerium beteuert auf Anfrage, das BAMF beziehe bei den Einzelfallentscheidungen „unterschiedliche Erkenntnisse ein, die teilweise auch dem Beschluss des Deutschen Bundestages zugrunde liegen“. Wie viele Jesiden in diesem Jahr bereits abgeschoben worden seien, sei nicht klar, da bei „Rückführungsmaßnahmen“ die Religionszugehörigkeit durch den Bund nicht erfasst werde. Im laufenden Jahr sollen nach Angaben des Ministeriums bis einschließlich September 110 Menschen in den Irak abgeschoben worden sein.
Am Tag vor dem Besuch bei der Familie Yezdin in Düsseldorf demonstrieren im benachbarten Essen 3000 Islamisten. Sie fordern die Errichtung eines weltweiten Kalifats. Auf der Demonstration sind Fahnen zu sehen, die denen des IS ähneln. „Wir verstehen nicht, warum in Deutschland Polizisten unsere Mutter in ein Gefängnis bringen und gleichzeitig Menschen schützen, die so denken, wie die Terroristen, die unser Volk vernichten wollten“, sagt Reka Yezdin. Seine Mutter soll jetzt am 13. November abgeschoben werden.
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